Offener Brief an die Mitglieder und Freund:innen der Grünen
von Reiner Braun und Werner Ruf (06.01.2021)
Vorbemerkung: die „Kooperation für den Frieden“ hat einen offenen Brief „Ist euch Frieden noch wichtig“ an die Vorsitzenden der Partei und der Fraktion die Grünen geschrieben, indem sie das neue Grundsatzdokument „zu achten und zu schützen“ der Grünen als eine „friedenpolitische Katastrophe“ bezeichnet. (siehe www. frieden-koop.de)
In einem 11 seitigen Schreiben hat Winfried Nachtwei (http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1670) (ehemaliger Abgeordneter und verteidigungspolitischer Experte der Grünen), diese Kritik zurückgewiesen.
Wir – Werner Ruf und Reiner Braun – fanden diesen Brief herausfordernd und kriegsoffen, so dass er uns zu der folgenden etwas grundsätzlicheren Antwort veranlasste:
Lieber Winfried,
gemeinsam haben wir in den 80er Jahren gegen die neuen US-Erstschlagswaffen und die Kriegsgefahr in Europa für eine Welt ohne Atomwaffen (in Ost und West) demonstriert. Ohne Dich sind wir 1999 auf die Straße gegangen, um gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien, unterstützt von der SPD/Grünen Bundesregierung, zu protestieren. Wir mussten erleben, dass mit verwegenen Verdrehungen der Verteidigung der Menschenrechte der erste deutsche Kriegseinsatz nach 1945 besonders durch den Grünen Außenminister Fischer, zu legitimieren versucht wurde. Die pazifistische Partei die Grünen wandelte sich zur Kriegspartei.
Eine alte historische Tatsache wurde 1999 – in einer tiefen und kontroversen gesellschaftlichen und friedenspolitischen Debatte – untermauert. Wenn es um Krieg und Frieden geht, geht es bei den Befürwortern von Kriegseinsätzen immer um „Frieden und Menschenrechte“ oder „Verteidigung der Menschenrechte durch Krieg“, also immer um gesellschaftlich positiv besetzte Werte. Niemand spricht mehr davon, dass „wir in den Krieg ziehen“ nein wir verteidigen den Frieden und die Menschenrechte oder wir „tragen Verantwortung“.
Es kommt also darauf an, genau hinzuschauen und zu analysieren, was wirklich gemeint ist. Lügen spielen bei der Begründung von Kriegen schon immer eine zentrale Rolle, Verdrehungen und Verkürzungen sind an der Tagesordnung. Interessen, besonders ökonomische und geostrategische, gibt es nie, immer geht es um eherne Ziele, seit 1999 geht es eigentlich immer um Menschenrechte, die durch Krieg verteidigt oder wiederhergestellt werden müssen.
Krieg aber ist per se menschenrechtsfeindlich. Die Vertreter der „humanitären Intervention“ maßen sich die moralische (!) Autorität an, das Leben von Menschen zu vernichten. Getötete und verstümmelte Unschuldige werden zu „Kollateralschäden“ verdinglicht. Deswegen ist bei der Formulierung von Grundsatzdokumenten zu Krieg und Frieden auch inhaltliche Schärfe, Klarheit und Genauigkeit dringend notwendig. Krieg und Frieden als historisch errungenes Menschheitsziel sind auch völkerrechtlich verbindlich in der UN -Charta Artikel 2.4 und im Grundgesetz fixiert. Hintertürchen, offene Formulierungen, Unschärfe, Zwei- und Doppeldeutigkeiten in den Formulierungen öffnen den Weg zum Krieg, zu Aggression und Intervention und dienen letztendlich als Legitimation für den Kriegseinsatz. Die Menschheitsgeschichte findet hierzu hunderte von Belegen (siehe 1. Weltkrieg, deutsch- französischer Krieg 1871, Irak- Invasion 1990 und 2003, Afghanistankrieg 2001, Libyen-Intervention 2011, die Liste ist endlos). Angesichts der Erfahrungen mit zwei Weltkriegen und dem damit verbundenen Leid und einer deutschen Bevölkerung, die Kriege mit großer Mehrheit ablehnt, kann ein Kriegseinsatz nur „legitimiert“ werden mit dem Ringen um etwas „absolut Gutes“. Dazu werden die „Menschenrechte“ heute permanent missbraucht. Und: Dahinter wird – meist unausgesprochen – eine Kategorisierung von Gut und Böse entfaltet, wobei quasi natürlich „wir“, die Guten, als moralische Autorität sie, die Bösen, daran hindern (müssen), Böses zu tun. Von vornherein wird dann ausgeblendet, dass gewaltförmige Auseinandersetzungen oft ihren Ursprung in der ungerechten Weltwirtschaftsordnung, in (meist) von den wirtschaftlich überlegenen Mächten des Westens verursachten Formen von Ausbeutung und Verelendung haben (s. Galtung: „Strukturelle Gewalt“). Die wahren Verursacher solcher Gewaltverhältnissen präsentieren sich nun als (wenn auch gewalttätige) Retter der Menschenrechte! Darum wird nicht von Krieg gesprochen, dieser wird verkleidet ans „humanitäre Intervention“.
Dies ist unsere grundsätzliche Kritik an dem Papier: das Grundsatzdokument ist „kriegsoffen“, es versucht, Kriege zu legitimieren und zu rechtfertigen und damit ist es im letzten Ende – es muss so deutlich gesagt werden – ein Kriegsprogramm.
Damit diese Scheinlegitimation – wozu besonders der Menschenrechtsdiskurs missbraucht wird – ermöglicht wird, muss der historisch wesentliche ja zentrale Grund für Kriege: politische, geostrategisch, ökonomische und handelspolitischen Interessen – in diesem Falle auch Deutschlands – verschwiegen und nicht thematisiert werden. Politik eines Landes hat nichts mit Moral aber viel mit Interessen zu tun.
Deutlicher als im folgenden Zitat von Egon Bahr kann es kaum formuliert werden. „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“ Egon Bahr vor Schüler:innen, Heidelberg. Rhein-Neckar-Zeitung, 4. 12. 2013.
Sicherheitspolitik/Außenpolitik ist immer Interessenspolitik zur Wahrung und Unterstützung wesentlicher politischer Ziele der herrschenden Politik und dies ist im kapitalistischen Deutschland nun einmal die politische und wenn notwendig auch militärische Absicherung der langfristig weltweiten Profitinteressen (deutlich formuliert bereits in den „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ von 1992).
Das Grundsatzdokument der Grünen ist damit auch ein die aktuellen politischen Herrschaftsstrukturen der globalen Ungerechtigkeit und Ausbeutung verfestigendes Dokument und legitimiert letztendlich die Absicherung kapitalistischer Profitinteressen durch Krieg (abermals siehe Galtung „strukturelle Gewalt“). Mit globaler Gerechtigkeit oder gar Humanität oder Verantwortung hat dieses nichts zu tun – auch wenn diese Begriffe fast beschwörend immer wieder im Papier der Grünen auftauchen.
Wenn wir uns die derzeit 13 laufenden Einsätze der Bundeswehr (27 wurden inzwischen abgeschlossen) auf 3 Kontinenten ansehen, in deren Rahmen rd. 4.000 Soldatinnen und Soldaten unterwegs sind, so erfüllen diese oft mehrere Ziele zugleich. Sie reichen von friedenssichernden UN-Missionen wie etwa der Überwachung des Waffenstillstands in der Westsahara bis zu Kriegseinsätzen im Rahmen der NATO in Afghanistan oder der Sicherung der Staatlichkeit des Kosovo, eines Staates, der nicht einmal von allen Mitgliedern der EU anerkannt wird und entstanden ist in der Folge der staatlichen „Neuordnung“ des Balkans während des völkerrechtswidrigen Krieges gegen Jugoslawien 1999.
Es ist Deutschland gelungen, dass die einzelnen Militäreinsätze kaum mehr nach ihren Mandaten (UN, NATO, EU) unterschieden werden, dadurch tritt auch die Frage in den Hintergrund, ob diese Interventionen völkerrechtskonform sind. Die NATO und die EU legitimieren sich in zunehmendem Maße selbst. Damit wächst auch der Spielraum Deutschlands für die Mandatsdefinition und das Verankern eigener Interessen in den Mandaten. Bestes Beispiel ist etwa die Anti-IS-Koalition im Irak, hinter der keines der Militärbündnisse (NATO oder EU) steht. So ist es kein Zufall, dass diese Mission, an der sich Deutschland mit rd 500 Soldatinnen und Soldaten beteiligt, ihren Sitz in der Hauptstadt der kurdischen Provinz, Erbil, hat. Dies stärkt die irakisch-kurdische Autonomiebewegung, trägt tendenziell zur weiteren Zerstörung des gegenwärtigen Irak bei und sichert den wachsenden Einfluss Deutschlands im Nahen Osten. Von besonderer und richtungweisender Bedeutung ist der EUTM-Einsatz in Mali: „Deutschland betrachtet Mali als wichtigen Schwerpunkt seines militärischen Engagements auf dem afrikanischen Kontinent.“ (BMVg) Dieser Satz beinhaltet klar, dass der Mali-Einsatz als Türöffner für die weitere (auch militärische) Präsenz Deutschlands auf dem Kontinent gedacht ist.
Dass die Auslandseinsätze der Bundeswehr gerade nicht zur Behebung humanitärer Notlagen gedacht sind, zeigen die unzähligen Notsituationen, in denen Deutschland nicht tätig wird – so etwa wenn Bangladesch die geflüchteten Rohingya auf vorgelagerte Inseln transferiert, die bei zu erwartenden Monsunstürmen überflutet werden können, wenn die so genannte und von EU-Staaten finanzierte „libysche Küstenwache“, die meist Teil von Schlepperorganisationen ist, Flüchtlinge, denen sie zuvor seeuntüchtige Boote verkauft hat, auf dem Meer wieder einfängt, um sie sodann auf Sklavenmärkten zu verkaufen oder was geschieht mit Flüchtlingen an der von der Türkei erbauten Mauer an der türkisch-iranischen Grenze? Was geschieht mit den Hunderttausenden Geflüchteten, die in der Türkei festgehalten werden und zur Erpressung der EU genutzt werden, die sich damit erpressen lässt? Dass auch in diesen Fällen nicht-militärische Maßnahmen meist hilfreicher wären, steht auf einem anderen Blatt. Die Frage nach den Ursachen für Elend und Flucht bleibt vor den – selektiven – Bildern von Elend und Flucht ausgeblendet. Die Symptome werden instrumentalisiert, die Ursachen, die auf die Strukturanpassungsprogame des IWF und der Weltbank sowie der Freihandelsabkommen der EU verweisen, werden nicht genannt. Insgesamt zeigen daher die Militäreinsatze, dass ihr primäres Ziel nicht eine wie auch immer geartete „Hilfe“ ist, sondern der Versuch als „global Player“ Weltgeschichte mitzugestalten. Grüne Politik wird so zum humanistisch gefärbten Deckmantel für die Durchsetzung imperialistischer Interessen.
Wer Interessen nicht formuliert, muss sich die Frage gefallen lassen: warum nicht? Sind es Unkenntnis oder bewusste Täuschung und Irreführung? Spätestens seit der siebenjährigen Amtsperiode des Grünen Außenministers Fischer ist Unkenntnis ausgeschlossen.
Der zentrale Punkt der Grünen ist die „Verteidigung der Menschenrechte“. Mit dieser wird die gesamte Sicherheits- und Friedenspolitik legitimiert, das Gewaltverbot in der UN-Charta und im GG werden ausgehebelt. Menschenrechte sind für jeden Friedensengagierten zentrales Gut, Friedensengagement ist also immer Verteidigung der Menschenrechte. Die größte, umfassendste und stärkste Verletzung der Menschenrechte ist Krieg. Dieser setzt das grundlegendste Menschenrecht, das Menschenrecht auf Leben, außer Kraft. Krieg negiert es jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde solange „Waffen sprechen“ (Konstantin Wecker) und permanent in allen bewaffneten Konflikten. Wer für die in den UN-Dokumenten formulierten bürgerlichen und sozialen Menschenrechte eintritt, sie einfordert, muss als erstes für Frieden eintreten. Frieden ist die Voraussetzung für die Erfüllung jedes Menschenrechts. Ohne Frieden keine Menschenrechte. Deshalb ist die Absage an Krieg und der Protest gegen jede kriegerische Handlung aktive Menschenrechtspolitik und Menschenrechtsengagement. Wem stünde es zu, um der Verwirklichung von Menschenrechten, Menschen ihr Recht auf Leben abzusprechen und es gar zu vernichten?
Wer dieses gegeneinanderstellt oder sogar „Kriege für Menschenrechte“ führen und unterstützen will, macht sich auch als Menschenrechtsbefürworter:in unglaubwürdig. Die Menschenrechte – und wir beziehen uns wieder auf die UN-Charta und das Grundgesetz – müssen gerade gegen die Menschenrechtsnihilisten aus der Politik verteidigt werden, die nichts für die Menschenrechte unternehmen, sie nur als ideologische Kampfbegriffe missbrauchen, um von ihren unsozialen, ökonomisch und ökologisch desaströsen Handlungen abzulenken und ihre militärischen Aggressionen (Krieg gegen den Terror) zu legitimieren.
Der Menschenrechtsdiskurs ist national und international eine Auseinandersetzung um die „kulturelle und geistige Hegemonie“ (Gramsci) und die Entlarvung des teilweisen verbrecherischen Missbrauchs dieses Begriffs. Für uns ist eindeutig: Menschenrechte ohne Frieden sind undenkbar. Friedenspolitik ist Menschenrechts-Aktivismus. Es sie doch die Frage gestattet: welches Menschenrecht in welchem Land ist gesichert oder erreicht worden durch den fast 20-jährigen sogenannten Krieg gegen den Terror? Leid und Zerstörung, Folter und Tod, Diktaturen, ökologische Desaster und ökonomische Zerrüttung sind überall in der Welt die Folgen – in Afghanistan, im Irak, in Libyen, in Syrien, in Somalia, in Mali, in …. Wäre es nicht auch eines Grünen Grundsatzprogramms würdig, daraus einmal grundsätzliche Lehren zu ziehen! Und wem diese Überlegungen nicht genügen, der möge doch die Bilanz der „humanitären Interventionen“ genau ansehen: Die dafür angeführten Ursachen wurden nicht nur nicht beseitigt, sondern gemeint waren in der Regel ganz andere Ziele!
Diese Logik des Grundsatzprogrammes führt in der Konsequenz dazu, dass auch konkrete politische Forderungen nur halbherzig, relativierend formuliert werden z.B. im Falle der nuklearen Teilhabe oder der Abrüstung. Ein zentraler Grundsatz früherer Grüner Friedenspolitik hieß „bei uns anfangen“, was aktuell bedeutet: bei dem militärisch stärksten, der NATO anzufangen. Dieser Grundsatz wird nicht mehr formuliert. Damit wird politischer Handlungs- und Gestaltungsspielraum zugunsten von militaristischer Politik aufgegeben.
Es bleibt als Fazit: dieses Grundsatzdokument ist kein Friedens- und Abrüstungsprogramm für das 21. Jahrhundert.
Wenn dieser Brief dazu beiträgt, eine intensivere gesellschaftliche Debatte über Krieg und Frieden anzuregen, hat er seinen Zweck erfüllt.
Wir freuen uns auf diese Diskussionen.
Mit friedlichen Grüßen
Reiner Braun und Werner Ruf
Reiner Braun, Geschäftsführer des „Internationalen Friedensbüros (IPB), stell. Vorsitzender der Naturwissenschaftlerinitiative „Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit“
Dr. Werner Ruf, Friedensforscher und Prof. für Internationale Politik i. R., Universität Kassel.
Der Beitrag ist am 09.01.2021 in der jungen Welt veröffentlicht worden: https://www.jungewelt.de/beilage/art/393651