von Peter Wahl
Diese Bundestagswahl hat in einem internationalen Umfeld stattgefunden, in dem sich die weltpolitischen Ereignisse geradezu überstürzt haben. Das ist eine Situation, wo nicht nur wir als Friedensbewegung und gesellschaftliche Linke, sondern auch alle anderen politischen Akteure – die Regierungen, die Eliten, internationale Organisationen – mit einer neuen Situation konfrontiert sind, die sie verstehen müssen. Das gilt auch für die neue Bundesregierung, für die Parteien usw.
Um welche Umbrüche es sich dabei handelt, werde ich in sieben thesenhaft verkürzten Punkten darzustellen versuchen.
Inhalt
- Erstens: Die Verhandlungen zwischen Moskau und Washington als auch die Konfrontation zwischen EU und USA sind beide ein dramatischer Umschwung in der internationalen Politik.
- Zweitens: Der Schock bei den EU-Funktionseliten ist enorm groß und das ist verständlich.
- Drittens: Was ist von den Verhandlungen zwischen USA und Russland zu halten?
- Viertens: Was ist mit der Beteiligung der Ukraine und der EU an den Verhandlungen?
- Fünftens: Was ist mit sogenannten europäischen Friedenstruppen?
- Sechstens: Was erwartet uns jetzt?
- Siebtens: Wie sollen wir als Friedenskräfte auf diese neue Situation reagieren?
Erstens: Die Verhandlungen zwischen Moskau und Washington als auch die Konfrontation zwischen EU und USA sind beide ein dramatischer Umschwung in der internationalen Politik.
Der Westen, seit 80 Jahren prägende Kraft der Weltpolitik, ist gespalten wie nie zuvor. Das führt dazu, dass die globalen Kräfteverhältnisse sich neu sortieren und vor allem die Transformation der Weltordnung zur Multipolarität sich beschleunigt.
Ein symbolhafter Vorgang, der das zeigt, waren die beiden kürzlichen UN Abstimmungen. In der Vollversammlung gab es einen Entwurf der USA, der „nur“ zum Frieden aufgerufen und Kriegsschuldfragen vollkommen weggelassen hat.
der dann verändert worden ist. Und dieser US-Entwurf forderte Er wurde dann von Großbritannien, Frankreich und anderen verändert und in eine Form gebracht, wie die Resolutionen in den Vorjahren, die die Verantwortung für den Krieg ausschließlich bei Russland sehen und entsprechende Forderungen stellt, wie Rückzug der russischen Truppen etc.
Gegen diesen Entwurf haben sowohl die USA, als auch Russland und China gestimmt. Dafür gestimmt haben 93 Länder. Das sind nicht einmal mehr die Hälfte der UNO-Mitglieder. Gab es im vergangenen Jahr bei einem gleichartigen Resolutionsentwurf noch 141 Stimmen, das entspricht 73%, so waren das jetzt nur noch 48%. Das zeigt, dass die Weltgemeinschaft von diesem Krieg genug hat.
Zweitens: Der Schock bei den EU-Funktionseliten ist enorm groß und das ist verständlich.
Sie müssen nämlich jetzt zwei hammerharte Schläge auf einmal verdauen. Der erste Schlag ist, dass die Ukraine dabei ist, den Krieg zu verlieren. Das hatte sich schon vor dem Wechsel in Washington abgezeichnet. Und Trump hat das früh erkannt. Die EU und die meisten Hauptstädte sind aber befangen in einer grotesken Realitätsverweigerung. Sie glauben nach wie vor, mit mehr Waffen, wenn schon nicht mehr zu siegen, doch wenigstens die Verhandlungsposition Kiews stärken zu können. Aber es ist klar: Ohne die USA werden Waffenlieferungen aus der EU das Blatt nicht wenden können. Sie werden lediglich das Töten verlängern. Und je länger es dauert, umso schlechter für die Ukraine und damit für ihre europäischen Sponsoren. Sie schießen sich ins eigene Knie und bewegen sich auf eine gravierende Niederlage zu.
Der zweite Schlag, den sie zu verdauen haben, ist natürlich die Konfrontation mit den USA. Das ist von historischer Tragweite. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs waren die transatlantischen Beziehungen der harte Kern dessen, was man als politischer Westen bezeichnet. Zwischen dem großen Bruder in Washington und dessen Schützlinge in Europa geht es nicht nur um den Umgang mit der Ukraine und um wirtschaftliche Konflikte, sondern das Ganze hat die Dimension eines Kulturkampfes. Ich erinnere an den Auftritt von Vance in München bei der Siko oder die Interventionen von Elon Musk.
Diese Vorgänge und die transatlantische Konfrontation treffen auf länger wirkende tektonische Verschiebungen, und zwar hier in erster Linie natürlich den Aufstieg Chinas, der BRICS und anderer Kräfte des globalen Südens und damit einhergehend ein Bedeutungsverlust der EU und insgesamt des Westens.
Und das wiederum in einer Situation, in der die EU in zwei internen, gravierenden Krisen steckt. Die erste ist der wirtschaftliche Niedergang. Der Draghi Report spricht von einer „existenziellen Herausforderung.“ Und wenn man sie nicht meistert, könnte das dazu führen, „dass die EU ihre Existenzberechtigung verlieren könnte“.
Die andere ist, dass die politischen Systeme seit einigen Jahren im Zustand permanenter Instabilität und Volatilität sind. Wir haben das jetzt gesehen, auch wieder bei der Bundestagswahl. Aufstieg der Neuen Rechten, Krise der Konservativen, Niedergang der Sozialdemokratie, usw. Das festzustellen, genügt aber nicht. Die Konsequenz aus diesem Punkt ist ein Rückgang der Problemlösungsfähigkeit und ein zunehmender Kontrollverlust auch durch die Herrschenden.
Drittens: Was ist von den Verhandlungen zwischen USA und Russland zu halten?
Zunächst muss man feststellen, dass Trump sich mit seiner Initiative dem gefährlichsten der vielen Konflikte zuwendet, die es in der Welt gibt. Man kann über seine Motive streiten, das ist ihm zu teuer, das hält ihn ab, sich auf China zu konzentrieren und ähnliches.
Unabhängig davon gilt, dass dieser Krieg das riskanteste Eskalationspotential mit international weitreichendsten Konsequenzen birgt. Deswegen ist es gut, ihn prioritär jetzt einer Lösung zuzuführen. Und der Grund ist klar. Haupt-Kriegspartei ist eine nukleare Supermacht, an deren Grenzen direkt gekämpft wird und seit der Operation der Ukraine auf dem Gebiet Kursk sogar auf deren eigenem Territorium. So etwas hat es in der Geschichte noch nie gegeben. Die Kriege der USA hingegen waren immer tausende Kilometer von ihren Grenzen weg.
Dazu meine Schlussfolgerung: Es ist auch für Friedenskräfte notwendig, den Ansatz von Trump zu unterstützen und das unabhängig davon, dass er in anderen Fragen wie Nahost, Grönland, Panama usw. Positionen vertritt, von denen man sagen könnte, sie schwanken zwischen inakzeptabel und abstrus. Was wir lernen müssen, ist die Außenpolitik von Staaten unter den neuen weltpolitischen Bedingungen nicht pauschal in ein moralisierendes Schema zu pressen. Sondern wir müssen fallweise eine Bewertung vornehmen. Die einfachen Muster der Einteilung in gute und böse Länder passen nicht zu dem komplexer gewordenen internationalen, sich hin zu Multipolarität entwickelnden System. Und das gilt natürlich auch für das aktuelle Derivat von Gut und Böse, nämlich das Konstrukt eines internationalen Kampfes zwischen Autokratie und Demokratie.
Ein aktuelles Beispiel: Ursula von der Leyen hat gerade Modi, den indischen Staatschef getroffen. Indien verfolgt bereits eine solche Politik. Man könnte von multivektorieller Außenpolitik sprechen. So nennt man das im Jargon der außenpolitischen Communities. Indien betreibt Handel, und zwar verstärkt mit Russland, und unterläuft damit die Sanktionen. Es ist aber gleichzeitig auch Mitglied der Quad-Gruppe, eine Diskussionsplattform mit den USA, Japan und Australien, die sich als geopolitisches Gegengewicht zu China im Indo-Pazifik versteht. Aber gleichzeitig ist Indien Mitglied der BRICS und hat sogar mit China beim letzten Gipfel in Kasan eine Vereinbarung getroffen, wie man die Grenzprobleme am Himalaya beilegt. Man sieht daran eine scheinbare Widersprüchlichkeit, die sich nicht in ein einfaches Schema pressen lässt. Tatsächlich sind die jeweils nationalen Interessen Dreh- und Angelpunkt eine solchen Politik – wobei die Definition von „Nationalen Interessen“ natürlich Resultat der innenpolitischen Kräfteverhältnisse ist.
Viertens: Was ist mit der Beteiligung der Ukraine und der EU an den Verhandlungen?
Es gibt eine gewaltige Kränkung der EU-Funktionseliten, dass sie bisher nicht mal am Katzentisch sitzen dürfen. Natürlich ist es sinnvoll, sie ab einem bestimmten Zeitpunkt und in bestimmter Weise einzubeziehen. Das wurde auch von Washington gesagt, und inzwischen auch von russischer Seite.
Allerdings konnte dieser Prozess überhaupt nur initiiert werden, weil die USA das Eis gebrochen und einige Rahmenbedingungen gesetzt haben. Wenn man auf die Ukraine oder die EU gewartet hätte, würde der Krieg einfach weitergehen, wahrscheinlich bis zum letzten Ukrainer.
Und dann gibt es natürlich auch machtpolitische Hintergründe in der Ukraine. Zelenskyi steht unter dem Druck eines aggressiven Nationalismus. Er wäre ein toter Mann, wenn er von sich aus eine solche Initiative gestartet hätte. Im Augenblick ist er natürlich in der viel angenehmeren Situation, dass er darauf verweisen kann: Der große Bruder hat mir keine andere Wahl gelassen, und ich muss jetzt verhandeln.
Die maßgeblichen Kräfte in der EU sind von einem russophoben Fanatismus besessen, der selbst jetzt noch mit neuen Sanktionen und Waffenlieferungen Öl ins Feuer gießt. Deshalb wird auch im weiteren Verlauf die Rolle der EU eingeschränkt bleiben. Und das ist gut so, denn man muss Kriegstreiber und fanatische Russenhasser zwar einbeziehen in eine Lösung, aber man muss dabei verhindern, dass sie Schaden anrichten und den ganzen Prozess blockieren.
Fünftens: Was ist mit sogenannten europäischen Friedenstruppen?
Diese Friedenstruppen sind so, wie sie gedacht und diskutiert werden, nichts anderes als NATO light, also NATO minus USA. Russland wird das nicht akzeptieren. Das hat der Kreml auch eindeutig formuliert.
Wir wissen ja auch, dass die Verhinderung der NATO- Mitgliedschaft der Ukraine das zentrale Motiv für den russischen Einmarsch war. Und es ist ja auch in der Tat so, dass hier ein legitimes Sicherheitsinteresse Moskaus liegt, das seit 15 Jahren ignoriert wird. Trump hingegen scheint es zu akzeptieren. Kissinger, George Kennan und andere Landsleute von ihm, die was von internationaler Politik verstehen, haben das schon vor zehn Jahren so gesehen.
Aber es gibt auch noch einen sehr praktischen Gesichtspunkt, abgesehen davon, dass die Russen das nicht wollen. Die Frage ist, wie will man eine 1.300 Kilometer lange Grenze militärisch schützen vor einem behaupteten Überfall aus Russland? Ein gemeinsames Papier des Brüsseler Thinktanks Bruegel und des Kieler Instituts für Weltwirtschaft hat ausgerechnet, dass dazu 300.000 Mann notwendig werden und zur Startup-Finanzierung 250 Milliarden Euro.
Auch hier habe ich mal die Vermutung, dass die Differenz zwischen Wollen und Können ziemlich groß ist. Und da die NATO das ohne die USA nicht machen kann, geht es nur per einer „Koalition der Willigen“. Frankreich und Großbritannien haben sich dazu ins Spiel gebracht, aber angesichts der Dimensionen des notwendigen Aufwandes habe ich meine Zweifel. Interessant ist die Frage, ob ein Kanzler Merz dazu bereit wäre, die Bundeswehr an diese Grenze zu schicken.
Sechstens: Was erwartet uns jetzt?
Ich sehe da drei Hauptlinien.
1) Beim Ukrainekrieg wird es ein zwar widerstrebendes, aber letztlich doch Einschwenken der EU auf die Linie der US-Politik geben. Man wird ihnen dann auch irgendeine Form der Beteiligung an den Verhandlungen zugestehen.
2) Der transatlantische Bruch wird wahrscheinlich von EU-Seite in ein Arrangement oder einen „Deal“ überführt werden. Und da hat sich bereits abgezeichnet, dass Meloni für Italien eine Vermittlerrolle spielen könnte, die ja auch bei der Inaugurationsfeier zu Trumps Amtseinführung in Washington dabei war. Wenn man sich die ökonomische und sicherheitspolitische Abhängigkeit ansieht – Stichwort Atomschirm – dann gibt es gute Gründe, dass die realistischen Kräfte in der EU den Bruch nicht weiter vertiefen wollen.
3) Es wird allerdings eine massive Aufrüstungswelle geben, eine Militarisierung, auch eine mentale Militarisierung mit dem Risiko eines gewaltigen Revanchismus. Das kann hingehen bis zur Diskussion über eine eigene Atommacht. Da gibt es erste Vorstöße, ob zum Beispiel Frankreich die Rolle übernehmen könnte, die die USA bisher bei dem Atomschirm haben.
Siebtens: Wie sollen wir als Friedenskräfte auf diese neue Situation reagieren?
1) Wir sollten ganz klar die Verhandlungen unterstützen und alle Versuche, ihnen Steine in den Weg zu legen, entgegentreten. Wir sollten das offensiv und selbstbewusst tun und nicht schüchtern meinen, dass man damit zum Trump-Versteher wird.
2) Bisher ist nicht klar, ob die geplante Raketenstationierung Teil eines Verhandlungspakets wird. Ich könnte mir vorstellen, dass Moskau das vorschlägt. Es gibt dazu ein paar Hinweise, aber das ist ja bei Trump immer alles etwas nebulös und widersprüchlich. Dass er mit der Reduzierung der Rüstungsausgaben um die Hälfte vielleicht auch strategische Verhandlungen machen will, hat er angedeutet. Wir als Friedensbewegung sollten klipp und klar sagen: Das muss in ein Verhandlungspaket mit hinein.
3) Wir müssen all diese neuen Erscheinungen und ihre Konsequenzen, die sich daraus ergeben, gründlich analysieren, diskutieren und dafür entsprechende Formate finden. Publikationen, Seminare, Workshops, Webinare usw. Das ist dringend notwendig. Wir stehen vor einer neuen historischen Situation in der internationalen Politik und das erfordert auch nicht alles neu zu denken, aber diese neuen Elemente wirklich zu verstehen.
Und das ist insofern auch notwendig, als es ja über einige Grundtendenzen, wie die Multipolarität, auch durchaus Umstrittenes gibt. Beispielsweise hat sich der Vorsitzende der Linkspartei, Jan van Aken, zu der Trump-Initiative mit der Überschrift „UNO statt Trump“ geäußert. Er schreibt: „Die USA steuern direkt auf ein neues Blockdenken zu drei Supermächte USA, China und Russland, die die Welt unter sich aufteilen und ihre Einflusszonen abstecken“. Das halte ich für ein Framing von Multipolarität, die nicht ganz dem entspricht, was ich darunter verstehe. Er spricht davon, Einflusszonen abzustecken, als ob das was Neues wäre. Bisher in der unipolaren Welt gab es auch eine Einflusszone, nämlich die der USA, und die hat sich auf die ganze Welt erstreckt. Und jetzt ist die Frage, ob sich aus internationalistischer Sicht, die auch die Interessen des Globalen Südens im Blick hat, ein polyzentrisches System doch ein gewisser Fortschritt im Vergleich zu dieser unipolaren, globalen Einflusszone ergibt.
Und last but not least, denke ich, ist auch die Anforderung an uns, mehr als in der letzten Zeit die grundlegenden Dogmen der bellizistischen Denkweise auseinanderzunehmen.
Vor allem müssen wir uns die Exzesse der antirussischen Feindbildproduktion vornehmen. Das Narrativ lautet: Russland überfällt nach der Ukraine als nächstes die EU. Ich denke, der 80. Jahrestag der Befreiung ist eine gute Gelegenheit dafür.
Man muss zudem die Ableitung von Außenpolitik aus diesem Konstrukt von Gut und Böse auseinandernehmen. Denn darin ist ja eine postmoderne Variante von Überlegenheitsdenken enthalten. Denn die Wir sind die Demokraten, die anderen, die Bösen sind die Autokratien. Das heißt: Wir sind die Besseren und Überlegenen, was auch ein uraltes Bild in Konflikten ist. Spätestens seitdem in der Antike die Barbaren erfunden worden sind, taucht das immer wieder auf.
Hinzu kommt das berühmte Prinzip „Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor“. Das ist sozusagen die erste Prämisse überhaupt im intellektuellen Betriebssystem des Bellizismus. Auch da müssen wir eben grundsätzlicher heran, was gar nicht so schwer ist. Die Gegenseite behauptet ja das Gleiche. Wenn jede Seite so denkt, führt das zu einer endlosen Eskalationsspirale. Da mit vielen jungen Menschen, die heute friedensbewegt sind, vieles aus der Tradition der 80er Jahre, als die Friedensbewegung noch groß und stark war, verloren gegangen ist, müssen wir auch diese Dinge wieder reaktivieren. Das Gleiche gilt für die Logik der Abschreckung. Abschreckung funktioniert ja nur im Kopf des Gegners – oder eben nicht! Was ist, wenn er eine Fehlwahrnehmung hat? Was ist, wenn er das Risiko unterschätzt oder ein durchgeknallter Psychopath ist?
Mein letzter Punkt: Wir müssen die Alternative plastisch machen, nämlich wie Kooperation mit einer europäischen Friedensordnung die politische Konfliktlösung nicht nur unblutig und billiger macht, sondern auch gewaltige Vorteile für alle beteiligten Seiten bietet.