Wie weit noch bis zum nächsten Großen Krieg?
von Werner Ruf, September 2020
Wie weit noch bis zum nächsten Großen Krieg?
Die amerikanischen Atomwissenschaftler, die seit Ende des Zweiten Weltkriegs die „Weltuntergangsuhr“ betreiben, haben abermals den Zeiger bis zum Beginn des nächsten Atomkriegs weiter vorgestellt: Es bleiben noch 100 Sekunden. Dafür sind sicherlich die dank Digitalisierung extrem verkürzten Vorwarnzeiten verantwortlich, aber auch, so heben sie hervor, die jüngst erfolgte Kündigung des Verbotsvertrags von Mittelstrecken-Raketen (INF) durch die USA und die von diesen angekündigte Nicht-Verlängerung des New-Start-Vertrags, der die Aufstellung von Atomraketen der beiden Mächte limitiert. Verhandlungen über die Begrenzung von Weltraumwaffen und Cyberwarfare sind gescheitert. In ihrer Nuclear Posture Review von 2018, dem Basisdokument für die atomare Planung der USA, das etwa alle sechs Jahre veröffentlicht wird, haben die USA die Umrüstung vieler ihrer Atombomben zu sogenannten Mini-Nukes angekündigt. Dies sind Atomsprengkörper von etwa „nur“ der Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. Sie sollen dadurch als Gefechtsfeldwaffen eingesetzt werden können.
Die Beziehungen zwischen den Atomgroßmächten (USA: derzeit etwa 5.800 Bomben,, Russland 6.375 Bomben) verschlechtern sich rapide. Die NATO und die USA haben in Rumänien und Polen Raketenabfangsysteme stationiert, die – so die Angaben – die USA wirksam vor Interkontinentalraketen schützen, also unangreifbar machen sollen. Bei all dem muss bedacht werden, dass Russland sicherlich die zweitgrößte Atommacht, aber längst keine Weltmacht mehr ist: Russland ist ein Rentenstaat, der vor allem vom Export von Rohstoffen und Rüstungsgütern lebt. Eine differenzierte Wirtschaft, ihre Teilnahme am Weltmarkt sind quasi inexistent. Die wirtschaftliche (Im)Potenz Russlands zeigt sich auch in seinen relativ bescheidenen Rüstungsausgaben: Mit 61,4 Mrd. US $ beträgt sein Militärhaushalt noch nicht einmal 10 % des US-amerikanischen, der bei 648,8 Mrd. $ liegt. China dagegen kann sich einen Rüstungshaushalt von 250 Mrd. leisten. Dieses „Missverhältnis“ erklärt, weshalb Russland offensichtlich auf die Modernisierung seiner (billigeren) Atomwaffen setzt, was die internationale Lage weder besser noch sicherer macht.
Die gigantischen Rüstungsanstrengungen der USA und des Westens allgemein (2% des Brutto-Sozialprodukts der NATO-Staaten sollen für Rüstung ausgegeben werden), die Modernisierung der Atomwaffen, der Aufbau von Raketenabwehrsystemen deuten darauf hin dass der Westen eine Neuauflage jener Politik anstrebt, die Caspar Weinberger, US-Verteidigungsminister unter Ronald Reagan so formulierte: „Die Sowjetunion wird sich mit einem großen Knall oder einem Winseln aus der Weltgeschichte verabschieden.“ Es darf bezweifelt werden, ob das Russland Putins den Weg Gorbatschows gehen wird.
Es ist aber nicht nur die atomare Aufrüstung, die die derzeitige Situation so gefährlich macht: Durch die NATO-Osterweiterung hat sich die Zahl der Mitgliedstaaten von 16 zur Zeit des Kalten Krieges auf nunmehr 30 fast verdoppelt. Nahezu alle Neumitglieder waren Mitglieder der Warschauer Vertragsorganisation. Ihre Mitgliedschaft bedeutet das massive Heranrücken an die russischen Grenzen. Binnen eines Jahres hat die NATO zwei Manöver an den russischen Grenzen durchgeführt, wie es sie seit dem Höhepunkt des Kalten Krieges nicht mehr gab. Dabei ist es nur der Corona-Pandemie zu danken, dass das Manöver „Defender 2020“ abgebrochen wurde. Die Großmanöver der NATO im Schwarzen Meer, das „air policing“ im Baltikum erhöhen täglich die Gefahr von (unbeabsichtigten?) Zusammenstößen, die die unmittelbar bewaffneten Konflikte auslösen können.
Diese Drohpolitik der NATO ist keine Sicherheitspolitik, sie gefährdet die Sicherheit, macht die Welt instabil. Sie gefährdet insbesondere das kontinentale Europa vom Atlantik bis zum Ural. Die Überlegungen, Nuklearwaffen als Gefechtsfeldwaffen einzusetzen, senken nicht nur die Atomschwelle, sie nehmen ein Vernichtungspotential in Kauf, das schier undenkbare Zerstörungen zur Folge haben würde. Wenn aber Russland gar nicht mehr jener bedrohliche Feind sein kann als der es immer beschrieben wird, stellt sich die hypothetische Frage, was wirklich das Ziel dieser Hochrüstungs- und Drohpolitik ist: Russland ist flächenmäßig das größte Land der Erde, der wahre Feind der USA und des Westens ist China. Seit Jahren ist der Pazifik das wichtigste militärische Aufmarschgebiet der USA. Von der See aus wird aber das Reich der Mitte nicht besiegbar sein. Die Avancen der USA gegenüber Nordkorea könnten noch einen anderen Sinn ergeben: Wenn die US-Präsenz südlich von Wladiwostok um die beiden Koreas erweitert würde, wäre die Klammer um China vom Meer wie vom Land aus geschlossen. Die Rohstoffe des russischen Riesenreichs wären die brauchbare Mitgift einer so gestalteten unipolaren Weltordnung. Dieses visionäre Vorhaben und die mit ihm verbundenen Unwägbarkeiten sind die Vernichtung (mindestens) eines ganzen Kontinents nicht wert. Das Zurückdrehen der Weltuntergangsuhr hat einen bezahlbaren Preis: Die NATO muss ihrer militärischen Fähigkeiten entkleidet werden, in Kontinentaleuropa muss ein kollektives Sicherheitssystem errichtet werden, wie es das Schlussdokument der KSZE, die Charta von Paris, 1990 vorgesehen hatte.
Werner ruf, September 2020, http://werner-ruf.net/