Beitrag von Oskar Lafontaine (Transkription)
Tanskription der Rede von Oskar Lafontaine auf dem Kongress „Ohne Nato leben – Ideen zum Frieden“, 21.05.2022 (autorisierte Fassung vom 14.6.2022 )
Ich grüße Euch alle herzlich und bedanke mich für die Einladung. Wir stehen heute vor den gleichen Fragen und Problemen, die uns in den letzten Jahrzehnten beschäftigt haben. Auf diese will ich im Folgenden eingehen.
„Ohne NATO leben“ als Titel der Konferenz ist sehr gut getroffen. Er ist provokativ genug, um auf uns aufmerksam zu machen. So danke ich einem SPD-Politiker namens Roth, dass er in verschiedenen Zeitungen seine Empörung geäußert und uns damit einen Gefallen erwiesen hat. Wahrscheinlich wollte er auf eine wichtige Diskussion aufmerksam machen. Natürlich wirkt die Überschrift „Ohne NATO leben“ zunächst einmal für viele Bürgerinnen und Bürger als Provokation, denn sie wirft ja sofort die Frage auf, was ist, wenn die NATO nicht mehr da wäre. Lediglich zu sagen „Raus aus der NATO“ hielt ich schon immer für falsch, denn gerade im Atomzeitalter haben die Menschen zu recht Ängste und Sorgen um ihre Sicherheit und fragen „was dann?“ Als Antwort ist das erste was ich hier sagen möchte: wir brauchen eine Sicherheitsarchitektur, wir brauchen ein Sicherheitsbündnis. Aber wir brauchen eben nicht das Sicherheitsbündnis, das sich NATO nennt.
Obwohl die Propaganda dafür gesorgt hat, dass viele Menschen positive Gedanken mit diesem so genannten Sicherheitsbündnis verbinden, muss klar gesagt werden, dass dieses Bündnis im Grunde genommen „USA“ heißen müsste – „NATO“ ist ein reiner Tarnname. Die NATO in der jetzigen Struktur ist nichts anderes als eine Militärmaschinerie der USA mit einigen Staaten, die sich dieser Militärmaschinerie angeschlossen haben. Und wenn gesagt wird, dass die Europäer in der NATO nichts zu sagen haben, dann ist das sicherlich keine Übertreibung.
Also ist die Frage, ob wir ein Bündnis mit den USA brauchen, um sicher in Europa zu leben. Meine Antwort ist seit vielen Jahren klar: Mit den USA, mit einer Oligarchie, die einen Oligarchen-Kapitalismus betreibt, ist kein friedliches Bündnis möglich, denn es gilt die alte Formel von Jean Jaurès: „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“ Das gesellschaftliche System, das wir Oligarchie oder kapitalistische Oligarchie nennen, ist zum Kriege angelegt. Das gilt aber nicht nur für die Oligarchie der USA, das gilt genauso – und da werden mir nicht alle zustimmen – auch für die Oligarchie in Moskau und es gilt mutatis mutandis auch für die Oligarchie in der Ukraine. Oligarchensysteme sind meiner Auffassung nach zum Frieden nicht fähig und daran schließt sich unmittelbar an, dass wir eine andere Wirtschaftsordnung brauchen, um zum Frieden zu finden.
Wie also kann man die derzeitige Situation in der Ukraine bewerten? Überraschenderweise habe ich Unterstützung vom Board der Herausgeber der New York Times erhalten und die Gedanken wurden glücklicherweise auch in der Berliner Zeitung veröffentlicht. Die New York Times, die im März noch eine andere Haltung hatte, warnt vor einer Ausweitung des Krieges und fragt nach den Zielen der USA in der Ukraine. Sie fordert US-Präsident Biden auf, dem ukrainischen Präsidenten die Grenzen westlicher Unterstützung aufzuzeigen. Das ist im Grunde genommen eine revolutionäre Forderung, die für ein Mitglied der gegenwärtigen Bundesregierung oder führende Politiker der politischen Parteien in Deutschland undenkbar wäre. Die von der New York Times gestellte Frage „wie lang soll das denn gehen?“ ist mehr als berechtigt, denn ein fortgeführter Krieg mit Russland wäre für die USA lang und kostenreich, so die Herausgeber der New York Times. Viel wichtiger aber ist es, das Morden sofort zu beenden, um Leben zu retten werden,Davon wird im aktuellen Diskurs kaum geredet – stattdessen über Sieg, Niederlage und Waffensysteme, als sei dies ein Weg zum Frieden. Die New York Times meint zwar, ein Verhandlungsfrieden könne der Ukraine einige arge Entscheidungen abverlangen, aber ein totaler Krieg mit Russland liege nicht im Interesse der USA.
Man hätte den Frieden schon lange haben können, er müsste nur drei Elemente enthalten. Das erste ist: es muss davon Abstand genommen werden, die Ukraine in die NATO aufzunehmen. Vor allem aber dürfen die militärischen Einrichtungen der NATO nicht auf die Ukraine ausgeweitet und dort Raketen mit kurzen Vorwarnzeiten an der Grenze einer Atommacht stationiert werden, denn das gefährdet den Weltfrieden.
Die New York Times fragt nach dem Ziel der Biden-Administration. Will sie Frieden mit einigermaßen belastbaren Beziehungen zu Russland? Ihre Äußerungen deuten in eine andere Richtung. Oder will die US-Administration Russland dauerhaft schwächen, worauf zahlreiche Aussagen hindeuten? Dies wäre ein Programm, die Ukraine zu zerstören und sehr viele Menschen zu töten. Diese Debatte muss dringend geführt werden, auch im Bundestag, und sie muss die Bundesregierung erreichen. Oder hat die US-Administration zum Ziel, Putin zu stürzen? Will man Putin als Kriegsverbrecher zur Rechenschaft ziehen? Aber dann müsste sich die New York Times auch klarmachen, dass in diesem Falle fast alle US-Präsidenten der letzten Jahrzehnte vor den internationalen Strafgerichtshof gehörten, weil sie völkerrechtswidrige Kriege geführt haben, die etwa 20 Millionen Todesopfer gefordert haben.
Wenn die Vereinigten Staaten keine klare Strategie haben, so die Herausgeber der New York Times, gefährden sie langfristig Frieden und Sicherheit auf dem europäischen Kontinent.
Ist also die Mitgliedschaft der USA in einem Bündnis Garantie für Sicherheit oder gefährdet diese Mitgliedschaft die Sicherheit der übrigen Bündnisteilnehmer? Seit Jahrzehnten wird versucht, darauf hinzuweisen, dass, solange die mächtigste Militärmacht der Welt Angriffskriege, verdeckte Kriege und Drohnenkriege in aller Welt führt, sie ihren Bündnispartnern eben keine Sicherheit gibt, sondern sie vielmehr gefährdet. Man muss sich Klarheit verschaffen, dass eine Oligarchie, die ständig Kriege führt, kein Verteidigungsbündnis leiten kann, das dessen Mitgliedern Sicherheit gibt. Würde dieser entscheidende Gedanke verstanden, wären wir ein gutes Stück weiter, denn es schließt sich unmittelbar die Frage an, wie Sicherheit in der heutigen Zeit mit drei rivalisierenden Atom-Mächten – USA, Russland und China – gefunden werden kann. Keine dieser drei Mächte scheint auf absehbare Zeit bereit, sich von ihren Atomwaffen zu trennen und alle drei haben mehr oder weniger auch das Interesse, ihren Machtbereich auszudehnen, sind mehr oder weniger auch imperiale Mächte.
Wenn also die Frage, ob eine Oligarchie, die auf Krieg angelegt ist, ein Verteidigungsbündnis anführen und dessen Mitgliedern Sicherheit bieten kann, zu verneinen ist, stellt sich die Frage nach der Alternative. Die Antwort liegt für die Europäer auf der Hand, wenn sie auch immer wieder im Interesse des Hegemons USA in Frage gestellt wird: Die Antwort ist ein europäisches Verteidigungsbündnis und im ersten Schritt ein Zusammengehen von Deutschland und Frankreich, weil dies ausreichend wäre, um Sicherheit und Stabilität in Europa auch mit militärischen Mitteln zu garantieren. Denn man darf nicht übersehen, dass Frankreich und Deutschland zusammen eine höhere Wirtschaftskraft haben als Russland. Und man darf auch nicht übersehen, dass Frankreich und Deutschland mehr Einwohner als Russland haben. Diese Überlegung ist in Europa seit langem virulent und stand schon beim ersten deutsch-französischen Vertrag zwischen De Gaulle und Adenauer im Raum. Aber dieser Vertrag wurde nie mit Leben gefüllt, weil Adenauer damals – vielleicht konnte er gar nicht anders – dem Bündnis mit den USA den Vorzug gab, genau wie die Mehrheit des deutschen Bundestages. So wurde der Weg für eine eigenständige europäische Entwicklung im Sinne von politischer Eigenständigkeit verbaut.
Die New York Times weist außerdem darauf hin, wie sehr sich die US-amerikanischen Wählerinnen und Wähler wegen der Inflation und der Störungen auf den globalen Lebensmittel- und Energiemärkten sorgen. Gleiches gilt für die deutschen Wählerinnen und Wähler, denen allmählich bewusst wird, welche Folgen die Kriegs- und Preistreiberei, politisch angetrieben insbesondere von den Grünen, für sie hat. Es handelt sich dabei um ein regelrechtes Programm zur Verarmung der großen Mehrheit der Bevölkerung und zur systematischen Schwächung der deutschen Wirtschaft mit dem daraus folgenden Abbau von Arbeitsplätzen. Auch weil die Schäden für die Menschen nicht nur in der Ukraine und Russland, sondern auch für die Menschen in den ärmeren Industriestaaten immer größer werden, müssen wir – da haben die Herausgeber der New York Times recht – einen Verhandlungsfrieden ansteuern. Dies gilt insbesondere auch, weil in den Entwicklungsländern immer mehr Menschen hungern, was sich durch die Blockade von Weizenlieferungen noch einmal erheblich verschärft. Es wäre also im Interesse der gesamten Welt, diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden, anstatt – wie es die Vereinigten Staaten derzeit tun – auf eine Schwächung Russlands zu setzen und einen langwierigen Krieg zu planen. Zu Recht raten die Herausgeber der New York Times, alles zu tun, um einen Verhandlungsfrieden herbeizuführen. Dessen Parameter sind – um auf die drei Punkte zurückzukommen – klar: Neutralität der Ukraine und Autonomie für den Donbass. Und die Krim wird selbstverständlich nicht mehr zum ukrainischen Staatsgebiet zurückkehren können. Das ist eine Frage der Realpolitik. Aber man könnte natürlich auch Volksbefragungen einsetzen, wie ja schon oft angeregt und dann wäre die Frage auch von dieser Seite geklärt.
Wenn also offensichtlich die kurzfristige Zielsetzung ein Verhandlungsfrieden und die langfristige Zielsetzung ein Bündnis ohne eine aggressive kapitalistische Oligarchie sein muss, dann bleibt nur die Möglichkeit, zu dem Weg zurückzukehren, der in Deutschland erfolgreich war und mit dem Namen Willy Brandt verbunden ist. Gestern las ich in der WELT einen Artikel, der mich ähnlich wie der Beitrag der Herausgeber der New York Times erstaunen ließ. Da heißt es: „Wie man es dreht und wendet, die Ostpolitik der Bundeskanzler Brandt, Schmidt, Kohl, bis zu Merkel hatte ihre Berechtigung, trotz der Fehler, die begangen wurden. Über kurz oder lang wird man zu ihr zurückkehren müssen. Denn der Schlüssel für den Zugang zur europäischen Stabilität liegt nicht in Kiew, Warschau, Prag oder Berlin. Er liegt in Moskau.“ Man möchte erleichtert aufatmen: nachdem man sich eine Zeit lang in einer Welt von Verrückten glaubte, die ununterbrochen zum Kriege treiben, tauchen jetzt Stimmen der Vernunft auf – in der New York Times, in der WELT. Und diese Feststellung, dass wir zur Ostpolitik Willy Brandts zurückkehren müssen, ist alternativlos!
Umso bedauerlicher ist es, dass kürzlich einer der beiden Vorsitzenden der Sozialdemokraten, Klingbeil, gemeint hat, Russland könne jetzt nicht mehr in eine Friedensordnung für Europa einbezogen werden. Welch eine Fehlleistung, kann man da nur sagen! Vielleicht müsste man einmal Seminare über die erfolgreiche Ostentspannungspolitik für die Führung der jetzigen Sozialdemokratie einrichten. Ich wäre gerne bereit, dort ein Referat zu halten, falls dies gewünscht würde. Immerhin blicke ich auf viele direkte Begegnungen mit Willy Brandt zurück und kann einiges erzählen über die Widerstände, auch aus den Vereinigten Staaten, gegen seine Entspannungspolitik. Ich kann auch von den Erfolgen berichten: Denn in den Zeiten der Ostpolitik gab es keine Kriege in Europa. In der Zeit der Ostpolitik wäre es unvorstellbar gewesen, dass irgendjemand in ein osteuropäisches Land einfällt, also in diesem Fall die Sowjetunion. Und erst als die Ostpolitik nach dem Fall der Mauer aufgegeben wurde, als die USA dachten: Jetzt schnappen wir uns die Beute, die uns Gorbatschow durch seine Friedenspolitik gelassen hat, da wurde es wieder gefährlich. Es kam zum Jugoslawien-Krieg, der auch ein völkerrechtswidriger, von den USA vom Zaune gebrochener Krieg war.
Und dann kam es eben zum Ukraine-Krieg, der ebenfalls Ergebnis der US-Geostrategie ist. Viele US-Politiker haben vor der NATO-Ost-Erweiterung gewarnt – viele renommierte US-Politiker, bis hin zu Kissinger, der nun wirklich keine Lichtgestalt der internationalen Politik ist. Sie haben darauf hingewiesen, dass dies zum Schaden Europas sei und den Frieden gefährde und letztendlich auch den USA schade. Dennoch wurde die Ost-Erweiterung immer weiter vorangetrieben. Seit 20 Jahren weist Putin konstant darauf hin, dass nicht einfach Raketen – womöglich auch noch atomar armierbare – und Truppen der NATO an der ukrainischen Grenze aufgestellt werden können. Und er hat mehr als Recht mit dieser Feststellung und Forderung!
Und so wie ich die New York Times und die WELT ins Feld geführt habe, möchte ich auch den Papst nennen, der darauf hingewiesen hat, und sich weigert, dies zurückzunehmen, dass das Bellen der NATO an Russlands Tür vielleicht Veranlassung gewesen sein könnte, diesen Krieg überhaupt vom Zaune zu brechen. Eine tapfere Aussage für einen Kirchenfürsten, der in die Politik der westlichen Staaten sehr stark eingebunden ist, aber trotzdem im Gegensatz zu vielen Feiglingen, die sich Staatsmänner nennen, den Mut hat, auf den gerüttelten Anteil, den die NATO und ihre Erweiterung an dem jetzigen unglücklichen Krieg haben, hinzuweisen.
Ich habe kürzlich ein Zitat von Montesquieu gelesen, der sagt, man dürfe in Sachen des Krieges nicht die offensichtlichen Ursachen – das wäre hier der Überfall durch Russland – mit den tieferen Ursachen – also dem geostrategischen Konflikt – verwechseln. Und man dürfe diejenigen, die den Krieg ausgelöst haben – das wären wiederum die Russen – nicht mit denjenigen verwechseln, die ihn unvermeidlich gemacht haben – also denjenigen, die von Oligarchien leben, die, wie der Papst zu recht weiß, vom Waffenhandel leben und die oft Parlamente beherrschen und dort über Mehrheiten verfügen
Ich fasse zusammen: Wir dürfen nicht müde werden, dem herrschenden Zeitgeist zu widersprechen. Wir dürfen nicht müde werden, darauf hinzuweisen, dass die Ostpolitik eine der besten Phasen der deutschen Außenpolitik war. Wir dürfen nicht müde werden, darauf hinzuweisen, dass ihre Prinzipien richtig waren. Wir brauchen jetzt keine Aufrüstung – eine Forderung, die leider auch die deutsche Sozialdemokratie übernommen hat – sondern wir brauchen Abrüstung. Wir brauchen gemeinsame Sicherheit. Das war die beste je gefundene Formel: Sicherheit geht nur gemeinsam.
Wir brauchen eben Wandel durch Annäherung, auch wieder mit Russland. Wir müssen mit Russland auch wieder einen kulturellen Austausch pflegen, denn die Kultur war immer eine gute Grundlage, die Menschen den Weg bereitet hat, zueinander zu finden. Es ist so viel zerstört worden in den letzten Monaten, dass man es gar nicht fassen kann. Wir müssen unermüdlich dafür arbeiten, dass diese Zerstörung wieder aufgehoben wird, denn letztendlich ist die Friedenspolitik in Europa vor allem zwei Männern verpflichtet: Auf der einen Seite dem sozialdemokratischen Kanzler und Friedensnobelpreisträger Willy Brandt, der einmal sagte, von deutschem Boden dürfe nie wieder Krieg ausgehen. Er hätte heute wohl formuliert: Von Deutschland dürfen nicht Waffen in alle Welt geliefert werden. Er hätte erst recht formuliert: Von deutschem Boden dürfen nicht schwere Waffen in Länder geliefert werden, um Russland zu bekämpfen. Und verpflichtet ist die Friedenspolitik in Europa vor allen Dingen auch Gorbatschow, der eine Vision hatte: Er träumte vom Frieden und er träumte vom gemeinsamen europäischen Haus.
Wir dürfen niemals vergessen: Kulturell gehört Russland zu Europa. Die europäische Kultur hätte sich ohne Russland ganz anders entwickelt. Ich kann mir die europäische Literatur ohne Dostojewskij und Tolstoi kaum vorstellen. Und die Leistungen Russlands zum Beispiel auf dem Gebiet der Musik oder Malerei gehören zum europäischen kulturellen Erbe. Unternehmen wir also jede Anstrengung, um morgen zum Waffenstillstand zu kommen und übermorgen zu den Anfängen einer Friedensordnung in Europa, in der nicht Bündnisse gegeneinander stehen – das ist ja das, was jetzt wieder von allen Seiten gepredigt wird mit einem ungeheuren Unverstand – sondern in der man erkennt, dass Sicherheit nur gemeinsam möglich ist.
Ich danke Euch!