Analyse statt Etiketten
Zu der anhaltenden Debatte um „rechtsoffen“ und den Stellungnahmen aus der VVN-BdA nachfolgend ein Textauszug aus einem Beitrag in den Marxistischen Blättern Nr. 4-2023
von Richard Höhmann
Entpolitisierung des Faschismusbegriffes
Die Verwendung unbestimmter Begriffe wie »rechtsoffen« verwischt die Trennschärfe zum Faschismus. Sie unterscheidet nicht zwischen Oberflächenphänomen und dem Wesenskern. Sie verharrt in der spontanen Wahrnehmung beim Betrachten von Demonstrationsplakaten. Das trägt dazu bei, den Faschismusbegriff zu entpolitisieren. In der Folge wird hinweggesehen über die realen Entwicklungsbedingungen des Bewusstseins derjenigen, die sich politisch bewegen. Zugleich wird ausgeblendet, was eng miteinander verwoben ist: Der Krieg und die dahinterliegenden reaktionären gesellschaftlichen Strukturen des Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium, die ihn gesetzmäßig hervorbringen und für die der Faschismus eine mögliche Herrschafts-Variante sein kann. Flick, die IG Farben und die Deutsche Bank standen sinnbildlich für den Zusammenhang von Faschismus und Finanzkapital. Das zusammen zu sehen und zu denken scheint zunehmend verloren zu gehen. Faschismus verliert sich in der Wahrnehmung vieler Engagierter im Dunkelfeld »irgendwo«, irgendwie »ganz rechts«. Die faschistische Gefahr wird vorrangig bei den Personen verortet, die rechtes Gedankengut äußern. Hinzu kommt: Die aktuelle antifaschistische Bewegung in Deutschland ist deutlich fixiert auf bestimmte Bilder und Erscheinungsformen. Wir erwarten Faschismus in den Formen und Anmutungen von gestern. Der Blickwinkel wird dadurch verengt. Die Analyse fehleranfällig. Darauf hatte schon 1976 der marxistische Faschismusforscher Kurt Gossweiler hingewiesen.[…]
Die Verarbeitung der Alltagserfahrungen, insbesondere von Krisenerfahrungen im Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten ist eine Schlüsselfrage nicht nur für die Herrschenden. Clara Zetkin hat schon 1923 hingewiesen: »nicht nur um die Seelen der Proletarier, sondern auch um die Seelen der Klein- und Mittelbürger zu kämpfen«. Ebenso Opitz: »Gerade diejenigen Schichten und Gruppen, bei denen ein Umschlagen ihres falschen Bewußtseins in faschistische Mentalität am ehesten zu befürchten ist, dürfen am wenigsten als Adressat der antifaschistischen Arbeit vernachlässigt werden.«
Der Kampf um die Seelen aufnehmen
Der Umgang mit Menschen im Einflussbereich neuer Bewegungen und Strukturen ist eine Nagelprobe dafür. Tausende Menschen haben seit 2022 an Veranstaltungen der »Handwerker für den Frieden« teilgenommen, initiiert von der Kreishandwerkerschaft Anhalt. Die Handwerker fordern »Friedenspolitik statt Krieg, keine Waffenlieferungen an die Ukraine sowie den Stopp von Sanktionen«.
Auf dem von ihnen organisierten Friedenskongress in Dessau im April dieses Jahres, auf dem Rainer Braun vom internationalen Friedensbüro und die Publizistin Gabriele Krone-Schmalz sprachen, vertraten die ausschließlich das friedenspolitische Anliegen der Handwerker. Dennoch wurde auf verschiedenen Internetplattformen versucht, die Handwerker in die rechte Ecke zu rücken.
Die Zusammenarbeit mit friedenspolitischen Strukturen, an denen auch aus den Corona-Demos hervorgegangene Aktivisten und Organisationen wie die Partei DIE BASIS beteiligt waren, führt mancherorts zu heftigen Debatten.
Mit der Begründung »Die Tür nach rechts bleibt zu«, die genannten Strukturen seien »rechts-esoterisch«, wird jede Zusammenarbeit abgelehnt – obwohl die friedenspolitischen Forderungen nahezu deckungsgleich sind.
Ein genauer Blick zeigt: Bei der Partei Die Basis bilden deren Frontleute eine bunte Mischung. In NRW ist der friedenspolitische Sprecher ein ehemaliger Landtagsabgeordneter der Linkspartei.
Eine Untersuchung der Heinrich-Böll-Stiftung für Baden Württemberg, stellt fest: »Um es noch einmal deutlich zu betonen: Die Partei-Neugründung die Basis ist keine genuin extrem rechte Partei. Ausweislich ihres Programms ist die Partei weder nationalistisch noch konservativ. (…)
Die allermeisten Kanditat:innen und Funktionär:innen wiesen keine oder keine bekannte rechte Polit-Biografie auf. Ein partei-politisches Vorleben finde sich eher bei Grünen, Linkspartei oder anderen nicht-rechten Parteien.« Die Partei fungiere »als Sammelbecken, auch für im Zuge der Corona-Krise Neupolitisierte und Protest-Wähler:innen.« Sie übernähme »Inhalte der Straßenbewegung und wurde so zum parlamentarischen Arm der Bewegung der Pandemie-Leugner:innen.«
[…]
Ähnlichkeiten zur bürgerlichen Lebensreformbewegung Mitte des 19. Jahrhunderts fallen auf. Diese beantwortete die Zumutung der Verstädterung und der Industrialisierung mit der individuellen Flucht in alternative Lebensformen. Die spätbürgerliche Ideologie, auf der die Lebensreformbewegung wurzelt, bildete den Flickenteppich der etwa ab 1900 aufkommenden Anthroposophie, liefert aber auch Versatzstücke für die Anfang des 20. Jahrhunderts sich herausbildenden faschistischen Bewegungen.
Sie gehört auch zu den Quellströmungen bei der Herausbildung der GRÜNEN. Die Grünen hatten in ihrer Gründungsphase keine Probleme, erzreaktionäre und profaschistische Persönlichkeiten an ihrer Spitze zu haben. Bei der Partei DIE PIRATEN können wir ähnliches beobachten. Der »Entfremdung« und dem »Misstrauen« liegen reale Verhältnisse zugrunde. Die Abstiegsängste nicht nur der Mittelschichten sind nicht eingebildet.
Es sind »verquere« Reflexe auf Umbrüche und Zumutungen des neoliberalen Systems, wie sie auch die Befunde einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage der Hans-Böckler-Stiftung aus 2/2022 bestätigen. Ein Weiteres sollten wir beachten: Eine der Hauptfunktionen von rechtspopulistischen und faschistischen Strukturen ist die Kanalisierung von Protest in eine Richtung, die den Herrschenden nicht schadet. Bedrohungsszenarien von »Flüchtlingswellen«, »Kriminalität arabischer Klans, die unsere Städte im Griff haben«, »Organisierter Sozialhilfebetrug rumänischer Banden« sind kein krudes Zeug brauner Postillen. Im Gegenteil – Sie stammen aus der Mitte der Gesellschaft!
Es sind die Nachrichten zur Primetime. Sie erzielen ihr Wirkung und entfalten ihre Ideologie im Alltagserleben unserer spätkapitalistischen Gesellschaft: Der Konkurrenz um einen Job, um die knappen Wohnungen, um die Kindergartenplätze. Rechtspopulisten, AFD und Co., aber auch SPD-Politiker (Sarrazin), CDU/CSU entwickeln daraus eine politische Agenda.
Das zeigt Wirkung auch in der Arbeiterklasse – vor allem bei den Teilen, die von Abstieg betroffen oder bedroht sind. Rezipiert wird imperialistische Ideologie. Nicht randständiges, sondern Mainstream. Der Wahlerfolg von AFD oder aktuell der Partei »Bürger in Wut« in Bremen und Bremerhaven erklärt sich auch daraus.
siehe auch: „Querfront“-Vorwürfe, Faschismusanalyse und die Interessen des Monopolkapitals – Nicht alles in einen Topf werfen
Interview von Björn Blach mit Richard Höhmann – UZ (14.7.2023)
Der Artikel in den MB komplett als PDF.