Webinar mit Alexey Gromyko
Webinar mit Alexey Gromyko:
Der Ukraine-Krieg, die global-strategischen Veränderungen in der Welt und Sichtweisen aus Russland
Mitschnitt des Vortrages (englisch) und schriftliche Zusammenfassung auf deutsch
Alexey Gromyko ist Direktor des Europa-Instituts an der Akademie der Wissenschaften in Russland.
Wir wollen mit diesem Webinar jemanden aus Russland zu Wort kommen lassen, die Originalstimme hören und nicht nur über sondern mit russischen Experten sprechen. Seine vielfältigen internationalen Kontakte, seine Beteiligung an Rüstungskontrolldiskussionen auch seine differenzierten Sichtweisen regen zu weiteren Diskussionen an und wir sehen in ihm einen qualifizierten Gesprächspartner.
Er gehörte u.a. zu der beratenden Kommission, die im April 2022 zu dem Bericht „Common Security 2022“ beigetragen hat. Dieser wurde herausgegeben vom IPB, dem internationalen Olof Palme Center und dem Internationalen Gewerkschaftsbund (IUC).
Weitere Infos zum Referenten: https://de.wikipedia.org/wiki/Alexei_Anatoljewitsch_Gromyko
Die Begrüßung und kurze EInführung erfolgte von Reiner Braun (IPB)
Zusammenfassung auf deutsch
Einleitend verwies Alexey Gromyko darauf, dass sich Russland nach den Statistiken der Weltbank bereits im Jahr 2021 im Wirtschaftsvergleich nach BIP deutlich verbessert habe und sich dies auch im Jahr 2022 fortgesetzt habe. Dies zeige, dass die Staaten, die Sanktionen gegen Russland verhängt hätten, die Leistungsfähigkeit der russischen Wirtschaft erheblich unterschätzt hätten.
Dies habe jedoch nichts an den extremen sozialen Ungleichheiten und Gegensätzen im Land geändert. Diese haben sich in den 90er Jahren herausgebildet und sind im internationalen Vergleich sehr hoch. (Russland liegt auf Platz 121 von 161 Ländern im Ranking der sozialen Ungleichheit). Die Einkommen der Mehrheit der Bevölkerung stagnieren und sind in den letzten Jahren sogar gesunken. Dazu hat auch beigetragen, dass der Staat viel Geld für Militärangehörige ausgegeben hat, die in der Ukraine gekämpft haben.
Innenpolitisch herrscht eine Stimmung des Sieges gegen die Ukraine, wobei die wenigsten Menschen im Land eine Vorstellung davon haben, was „Sieg“ bedeutet.
Für die USA und ihre Unterstützung hänge viel vom Präsidentschaftswahlkampf 2024 ab, der praktisch schon begonnen habe. Früher oder später werde es ohnehin zu einem Waffenstillstand kommen. Die aktuelle Situation sei ein klassisches Beispiel für Abhängigkeiten. Dass mehrere Atommächte involviert seien, sei auch Teil der Ukraine-Krise.
Das Risiko eines militärischen Zwischenfalls zwischen Russland und der NATO steige von Woche zu Woche, ja fast von Tag zu Tag, wofür sich beide Seiten auch gegenseitig verantwortlich machten.
Zu den Beziehungen zwischen Russland und der EU
Im Jahr 2013 wickelte Russland noch 50 % seines Handels mit der EU ab. Dabei handelte es sich aber nicht um eine echte Zusammenarbeit, sondern Russland war vor allem Rohstofflieferant. Seit 2014 hat sich die EU aber immer wieder an Sanktionen beteiligt.
Russland, die OSZE und die EU haben 2014 die Vereinbarungen mit dem Minsker Abkommen getroffen, aber dann hat die EU eine sehr pro-ukrainische Position eingenommen. Die USA haben die Zeit von 2014 bis 2022 genutzt, um das ukrainische Militär für einen Krieg mit Russland zu stärken. Seitens der EU wurden damals auch tödliche Waffen über die „Friedensfazilität“ der EU an die Ukraine geliefert. Gleichzeitig verschlechterten sich die Beziehungen zu Russland massiv. Trotz des sanktionsbedingten Handelseinbruchs blieb Russland bis 2020 mit 40 Prozent der größte Rohstofflieferant der EU.
Die militärische Intervention Russlands im Februar 2022 war jedoch bereits stark von diesem Sanktionsregime geprägt. So sind beispielsweise Düngemittel seit 2022 stark sanktioniert. Dennoch sind die russischen Exporte in die EU seitdem nominal um 53% gestiegen.
Es ist offensichtlich, dass die Beziehungen zwischen Russland und der EU im Jahr 2023 einen Tiefpunkt erreicht haben. In Moskau gibt es jetzt eine strategische Politik der Orientierung nach Asien. Mittelfristig kann sich Alexey Gromyko aber durchaus Korrekturen aus pragmatischen Gründen seitens der EU vorstellen. Es gebe noch einige offene Kanäle, die von beiden Seiten, auch militärisch, genutzt würden.
Im anschließenden Diskussionsteil konnten mehrere konkrete Fragen von Alexey Gromyko beantwortet werden.
Welche Schritte wären für eine europäische Friedensarchitektur notwendig?
In diesem Zusammenhang verwies Alexej Gromyko auf weitere sicherheitspolitisch sensible Orte an den Grenzen Russlands, nämlich das Baltikum, die Situation um Kaliningrad und das Schwarze Meer, die auch nach dem Ende des Ukraine-Konflikts konfliktträchtig blieben und daher besonderer vertrauensbildender Maßnahmen bedürften.
Ein größerer eurasischer Wirtschaftsraum wäre eigentlich für beide Seiten sehr attraktiv. Sowohl von Seiten der EU als auch von Seiten Russlands wird jedoch der Eindruck erweckt, man sei mit dem derzeitigen wirtschaftlichen Auseinanderdriften zufrieden.
Für Alexey Gromyko manifestiert sich im Ukraine-Konflikt eine Transformation der globalen Weltordnung, denn dieser Konflikt sei mit keinem anderen in der jüngeren Geschichte vergleichbar. Er erinnerte in diesem Zusammenhang an die Kubakrise 1962, die schon damals kein lokaler Konflikt gewesen sei. Auch der Ukraine-Konflikt spiele sich an der russischen Grenze ab und berühre russische Sicherheitsinteressen.
Alexey Gromyko verwies darauf, dass es derzeit 9 Atommächte gebe (wenn man Israel mit einbeziehe) und jeder militärische Konflikt davon beeinflusst werde. Vor diesem Hintergrund gehe es um viel mehr als zwischen Russland und der Ukraine. Auch in den USA würden immer mehr Menschen erkennen, worum es in diesem Konflikt wirklich gehe. Man müsse daher mit Vernunft an die Sache herangehen, denn dann wäre es 2022 nicht zu der militärischen Intervention Russlands gekommen.
Derzeit entwickle sich eine multipolare Welt, in der die europäischen Mächte keine Rolle mehr spielten, sondern die Länder des globalen Südens politische und wirtschaftliche Ansprüche stellten. Es gehe also weniger um Russland, die EU und die USA. In 10 bis 20 Jahren werde die Welt ganz anders aussehen.
Kann es noch ein weiteres Referendum im Osten der Ukraine nach einem Waffenstillstand geben?
Die Antwort auf diese Frage ist nach Meinung von Alexey Gromyko schwierig. Prinzipiell würden zwar in Donezk und Lugansk neue Referenden keine Probleme bereiten, denn es gab hier eine klare Wahl. Das Problem mit einer Wiederholung sei aber, dass bei einer Wiederholung das vorherige von 2014 als illegal dargestellt werden könnte. Deshalb gibt es hierzu unterschiedliche Positionen, die aber Spielräume für Verhandlungen und notwendige Kompromisse erlauben würden. Auf der Krim wäre ein Referendum hingegen Zeitverschwendung.
Ein besonderes Problem sind aber die Menschen, die aus dem Donbass in beide Richtungen geflohen sind, davon allein 5 bis 6 Millionen nach Russland. Theoretisch müssten Millionen Menschen gehört werden, die jetzt geflohen sind, was naturgemäß sehr schwierig ist. Eine Rückkehr dieser Menschen würde lange Jahre dauern. Diese würden aber nicht auf die Entscheidung eines solchen Referendums warten wollen.
Muss man Minsk II jetzt beiseite legen oder ist ein Revival möglich?
Für Alexej Gromyko ist Minsk II tot. Moskau sei bereit gewesen, seinen Teil dazu beizutragen, Kiew nicht. Im Donbass sei damals sogar der Vorwurf des Verrats durch Moskau erhoben worden. 14.000 Menschen seien im Donbass (nach OSZE-Angaben) durch Angriffe im Grenzgebiet getötet worden, nachdem Kiew 2014 und Anfang 2015 die Armee dorthin geschickt habe. Eine Wiederbelebung könne nicht funktionieren. Die damalige Plattform habe keine Grundlage mehr, inhaltlich könne es aber ein „Minsk III“ geben.
Die im März 2022 ausgearbeiteten und von den Unterhändlern bereits paraphierten Dokumente für einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine wurden Mitte April von Kiew abgelehnt. Ihr Inhalt ist nach wie vor geheim, auch wenn Putin vor einigen Monaten einige Seiten veröffentlicht hat. Die Bedingungen von damals sind aber heute nicht mehr vorstellbar, weil es jetzt um ganz andere Grenzverläufe geht.
Welche Chancen für eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Russland und Westeuropa bestehen überhaupt noch?
Schließlich sei Russland mehrheitlich ein europäisches Land und dort vor allem kulturell und historisch verwurzelt. Die meisten Russen seien mit einer strategischen Partnerschaft mit der EU recht zufrieden. Das Problem sei jedoch das Verhältnis zur NATO. Er hoffe sehr, dass es in Zukunft wieder einen akademischen Austausch geben könne. Die Russen seien sehr frustriert über die Politiker auf beiden Seiten und hofften nicht, dass dies über Jahre und Jahrzehnte so bleiben werde. (KP)