Fünf Thesen zur EU und den EU-Wahlen 2024
Die Politikwissenschaftler und Marxisten Ekkehard Lieberam und Roland Wötzel haben für die Leipziger Diskussionsgruppe „Analyse der Weltlage“ fünf Thesen zur EU und den EU-Wahlen verfasst. Ekkehard Lieberam ist Jurist und war Professor für Staatstheorie und Verfassungsrecht in der DDR. Der Ökonom und Jurist Roland Wötzel hatte leitende Funktionen in der DDR und der SED. Die beiden befassen sich in ihrem Text mit dem ökonomischen und militärischen Gewicht der Europäischen Union und ihrem engen Verhältnis zu den USA.
von Ekkehard Lieberam und Roland Wötzel
Veröffentlichung mit freundlichem Dank für die Genehmigung an die beiden Autoren.
auch veröffentlicht in der UZ vom 31.5.2024 unter dem Titel: Im Wahlkampf Friedenskräfte stärken Quelle: https://www.unsere-zeit.de/im-wahlkampf-friedenskraefte-staerken-4792356/ |
Inhalt
EU ist imperialistischer Akteur
Erste These: Der Zusammenschluss EU von 27 europäischen Staaten ist ein imperialistischer Akteur mit Weltmachtstatus.
Hervorgegangen aus der 1952 vertraglich beschlossenen gemeinsamen Kontrolle über Kohle und Stahl von sechs europäischen Staaten (Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande und Luxemburg), die 1957 mit den Römischen Verträgen zur EWG um das Ziel einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik erweitert wurde, war die EU bis etwa 2010 die weltgrößte Wirtschaftsmacht. 20 ihrer Staaten bilden mittlerweile eine Wirtschafts- und Währungsunion. Sie war „von Anfang an darauf angelegt, die Interessen des Kapitals zu fördern und so den Widerspruch zwischen der Begrenztheit nationaler Märkte und der Tendenz des Kapitals zum unbegrenzten Wachstum zu entschärfen“. (Thomas Sablowski/Peter Wahl (Hrsg.), „Europäische Integration in der multiplen Krise. Zukunftsaussichten der Europäischen Union“, Hamburg 2024, Seite 9)
Als Staatenzusammenschluss kann die EU nur Entscheidungen hinsichtlich jener Bereiche der Politik treffen, die ihr vertraglich übertragen wurden. Dazu gehören heute auch ausgewählte Bereiche der Migrations- und Klimapolitik sowie der Außen- und Sicherheitspolitik. „Ökonomisch hat die EU tatsächlich Weltmachtformat“ (Peter Wahl, „Zwischen Wollen und Können“, ebenda, Seite 31), allerdings mit der Tendenz zur Abschwächung eines ständigen Rückgangs des Anteils am Welt-Bruttoinlandsprodukt (BIP). Im Jahre 2022 stand die EU nach den Berechnungen des Internationale Währungsfonds (IWF) hinsichtlich ihres Anteils am Welt-BIP mit 12,8 Billionen Dollar an dritter Stelle – nach den USA mit 25.5 Billionen Dollar und China mit 17,9 Billionen. 1980 betrug der Anteil der EG, ihrer Vorgängerin, am Welt-BIP 25 Prozent, 2020 der Anteil der EU noch 14 Prozent. Die EU ist nach wie vor eine der größten Welthandelsmächte. Ihr Anteil am Weltexport beziehungsweise -import lag 2021 bei 15 Prozent beziehungsweise bei 14 Prozent.
Aktuell zeichnet sich die EU gegenüber den USA durch eine anhaltende ökonomische Schwäche aus: „Der ökonomische Rückstand Europas auf die USA ist in den vergangenen Jahren dramatisch gewachsen. Welchen Indikator man auch wählt – Pro-Kopf-Einkommen, Produktivität, Wachstum – überall liegen die EU-Staaten bei höchstens drei Viertel der US-Werte.“ (Tim Bartz, Simon Hage und andere, „Ein Kontinent wird abgehängt“, „Spiegel“ vom 18. Mai 2024)
Zur EU gehören mittlerweile 450 Millionen Einwohner. Seit dem 1. Dezember 2009 ist sie Rechtspersönlichkeit und damit berechtigt, internationale Abkommen und Verträge zu unterzeichnen. Zum politischen Mechanismus der EU gehören neben anderen Einrichtungen vier zentrale Institutionen: der „Europäische Rat“ (bestehend aus den 27 Regierungschefs und dem EU-Kommissionspräsidenten/der EU-Präsidentin), der „Rat der EU“ (als „Staatenkammer“ mit jeweils einen Vertreter pro Mitgliedstaat, der ermächtigt ist, verbindliche Entscheidungen zu treffen), die „Europäische Kommission“ (bestehend aus 27 unabhängigen Kommissaren) und das „Europäische Parlament“ als „Organ der Unionsbürger“. Allein zum Apparat der Europäischen Kommission gehören 32.000 Beamte und Vertragsbedienstete.
Die Geschichte der EU ist eine Geschichte des Strebens nach strategischer Autonomie und geopolitischem Einfluss, begrenzt immer wieder auch durch Eingriffe der USA. Dabei prägt der Charakter der EU als Zusammenschluss souveräner kapitalistischer Staaten ihre oft uneinheitliche und widersprüchliche Rolle als globale Großmacht.
In der EU konkurrieren Frankreich und Deutschland (gemeinsam und separat) um die Führungsrolle. Der Anteil Frankreichs liegt bei 17 Prozent des EU-BIP, der Anteil Deutschlands am BIP der EU bei 25 Prozent und ist damit höher als das der 19 kleinsten Staaten der EU zusammen.
Abstimmungen der EU-Staaten in der UNO fallen nicht selten sehr unterschiedlich aus. Bei der Entscheidung am 10. Mai 2024 über eine UNO-Vollmitgliedschaft Palästinas votierten zum Beispiel Frankreich, Spanien und Portugal dafür, Ungarn und Tschechien dagegen und Deutschland sowie Italien enthielten sich. Uneinheitlich ist entsprechend ihren jeweiligen nationalen Interessen auch das Verhalten der EU-Einzelstaaten zur mittlerweile ersten globalen Gestaltungsmacht China. Abkommen mit China im Rahmen des Projekts „Neue Seidenstraße“ haben bisher 18 der 27 Mitglieder geschlossen.
EU bleibt Juniorpartner der USA
Zweite These: Trotz ihres anhaltenden Strebens nach Eigenständigkeit als geopolitisches Projekt bleibt die EU Juniorpartner der USA.
Ursachen für diesen Status als Juniorpartner der USA – die Bezeichnung „Vasallenstatus“ erscheint uns überzogen – sind die gegenüber den USA weit geringere militärische Stärke der EU und deren ökonomische Schwäche. Die militärische Stärke der EU liegt bei etwa 10 bis 15 Prozent der militärischen Stärke der USA. Die geringere militärische und ökonomische Leistungsfähigkeit der EU sichert die Vorherrschaft der USA in der NATO und bürgt für die geopolitische Hegemonie der USA auch in den nächsten Jahrzehnten.
Als sich in den Jahren 1999 ff. mit der Wahl von Wladimir Putin zum Präsidenten Russlands und seiner Politik einer engen Kooperation Russlands mit der EU ein Zeitfenster für ein geopolitisches Bündnis der EU mit der Russischen Föderation auftat, blockierten die USA diesen Weg. Die „Entstehung eines regionalen Hegemons in Eurasien“, so belegen entsprechende Dokumente in Washington, waren unvereinbar mit denen der USA. (Vergleiche Peter Wahl, am angegebenen Ort, Seite 25)
Die EU-Abhängigkeit zeigt sich nicht selten auch in einem Übermaß an politischer Gefolgschaft gegenüber den USA. Die finanzielle und militärische Unterstützung der Ukraine in ihrem Krieg gegen Russland seitens der EU war mit 85 Milliarden Dollar vom 24. Februar 2022 bis zum 15. Januar 2024 („Handelsblatt“ vom 22. April 2024) größer als die der USA (68,7 Milliarden). Immer wieder sprechen sich Politiker in den EU-Staaten dafür aus, dass die EU gegebenenfalls auch ohne die USA die Ukraine militärisch unterstützen werde. Der Zollerhöhung der USA für Autos, Batterien und andere Produkte aus China von Mitte Mai 2024 folgte die EU bisher nicht.
Ein Alleingang der EU etwa als Unterstützerin einer Fortsetzung des Ukraine-Krieges gegen den ausdrücklichen Willen der US-Administration unter Donald Trump ist unseres Erachtens nicht möglich.
Das mit dem EVG-Vertrag (Europäische Verteidigungsgemeinschaft) ab 1952 verfolgte Vorhaben, die „europäische Einigung“ auch auf die Schaffung gemeinsamer Europäischer Streitkräfte auszudehnen, zielte am Anfang der „EU-Geschichte“ darauf ab, für „das vereinigte Europa“ eine militärische Stärke ähnlich der der USA zu erreichen. 1954, mit der Ablehnung dieses Vorhabens durch die Nationalversammlung Frankreichs, scheiterte dieser Versuch anhaltend.
Bestandteil der EU ist seit 1992 die zur „Verteidigung“ gegründete „Westeuropäische Union“. Diese blieb aber bisher ohne größere Bedeutung. Eine „europäische Armee“ und deren Ausrüstung mit Nuklearwaffen wurden mehrfach gefordert, aber nicht geschaffen. Allerdings gibt es im Rahmen der „operativen Autonomie der EU“ immer wieder Initiativen, die EU militärisch „handlungsfähig“ zu machen. Nun will die EU bis 2025 eine autonome Interventionstruppe in Brigadegröße aufstellen. Mit einem „Europäischen Verteidigungsfonds“ stehen von 2021 bis 2027 seitens der EU knapp 8 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung von Rüstungsprojekten bereit. (Vergleiche Jürgen Wagner, „Die Militarisierung der EU“, in: Thomas Sablowski/Peter Wahl (Hrsg.), am angegebenen Ort, Seiten 50 und 52)
„Demokratisierung der EU“ ist Illussion
Dritte These: Die von linken Parteien im Zusammenhang mit den Europawahlen erhobene Forderung nach „Demokratisierung der EU“ ist eine Illusion.
Die Linkspartei fordert in ihrem Europawahlprogramm 2024 eine „demokratische EU …, die dem Frieden verpflichtet ist“. Wie das angesichts der machtpolitischen Ausrichtung der EU und ihrer festen Bindung an die Interessen der europäischen Banken und Konzerne realisiert werden soll, bleibt im Dunkeln.
Richtungsentscheidungen des Europaparlaments gegen die anderen Institutionen der EU sind nun einmal nicht möglich. „Strategische Weichenstellungen werden im Wesentlichen von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliederstaaten ausgehandelt.“ (Klaus Dräger, „EU: Zwischen Supranationalisierung und Desintegration“, in: Thomas Sablowski/Peter Wahl, Hrsg., am angegebenen Ort, Seite 112) Die EU ist kein parlamentarisches Regierungssystem, in dem die Exekutive (die aus 27 Kommissaren bestehende Kommission) vom Parlament gewählt wird und das Parlament über „alles“ entscheiden kann. Auch für die EU als Nachfolgerin der EG (Europäische Gemeinschaft) gilt: „Der politische Mechanismus der EG ist durch den Abbau mitgliederstaatlicher Zuständigkeiten und Befugnisse bei gleichzeitiger Stärkung der Exekutiv-organe auf nationaler und EG-Ebene gekennzeichnet.“ (Axel Dost/Bernd Hölzer, „Der politische Mechanismus der EG“, Berlin 1986, Seite 307) Das Europaparlament hat nur beschränkte Gestaltungsmöglichkeiten. Es dient vor allem der Legitimierung der EU.
Das Europäische Parlament ist eine gewählte Kammer der Bürgerinnen und Bürger der Einzelstaaten, die nach und nach über verschiedene Verträge und politische Absprachen ihre Rechte und Kompetenzen erweitert hat. Es gilt: „Dem Europäischen Parlament wird nicht nur das Recht vorenthalten, den Kommissionspräsidenten und damit die Spitze der EU-Exekutive bestimmen zu können, es besitzt auch kein Initiativrecht, was bedeutet, dass es keine Gesetze aus seiner Mitte heraus vorschlagen kann. Es hat nicht einmal das Recht zu verlangen, dass die von ihm selbst mitbeschlossenen Richtlinien und Verordnungen überarbeitet oder aufgehoben werden. … Die unsinnige und kostenaufwendige Aufteilung auf zwei Parlamentssitze in Brüssel und Straßburg kann es nicht per Beschluss aufheben, ist es doch vertraglich festgeschrieben.“ (Andreas Wehr, „Weiterhin nur ein Scheinparlament. Vor den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2024“, 7. März 2024)
Im politischen Machtmechanismus der EU hat das 1954 geschaffene und seit 1979 alle fünf Jahre direkt in den Mitgliedsländern gewählte Europaparlament vorwiegend dekorative beziehungsweise wenig gestaltende Funktionen. Dem derzeit aus 705 (und nach dem 9. Juni aus 720) Abgeordneten bestehenden Europäischen Parlament fehlt die für fast alle Nationalstaaten typische Einteilung in Regierungsmehrheit und Oppositionsminderheit. Es besteht zwar aus Fraktionen, die aber zumeist mehr lockere Zusammenschlüsse sind und in der Regel keine Fraktionsdisziplin kennen.
Schon die begrenzten gesetzgeberischen Möglichkeiten des Europaparlaments schließen es aus, „auf parlamentarischem Wege“ die Grundrichtungen der EU-Politik zu ändern oder gar die gesellschaftspolitischen Verhältnisse in den Staaten der EU umzustürzen. Das Europaparlament kann lediglich im Rahmen der ihm vertraglich übertragenen Politikbereiche handeln. Es hat mittlerweile das Recht, schriftliche und mündliche Anfragen an die Kommission stellen, Gesetzesvorlagen der Kommission und den vom „Rat der EU“ vorgelegten EU-Haushalt mit zu beraten, internationalen Abkommen zuzustimmen, den Kommissionspräsidenten zu wählen, Untersuchungsausschüsse einzusetzen, Misstrauensanträge zu stellen, Berichte zu prüfen und der Kommission Entlastung zu erteilen. (Vergleiche „Das Europaparlament“, Bundeszentrale für politische Bildung, 2010, www.bpb.de)
Bewahrheitet hat sich die Erkenntnis Lenins aus dem Jahre 1915, dass „die Vereinigten Staaten von Europa unter kapitalistischen Verhältnissen entweder unmöglich oder reaktionär“ sind. (W. I. Lenin. „Über die Losung der vereinigten Staaten von Europa“, LW, Band 21, Berlin 1969, Seite 343)
EU-Parlament auch Forum für Gegenmacht
Vierte These: Aus linker Sicht machen Wahlkampf für und Arbeit im Europaparlament Sinn, wenn damit friedens- und sozialpolitische Gegenmacht in den EU-Staaten gestärkt werden kann.
Gemessen an einem Politikverständnis, das Wahlen und Wahlkämpfe vorwiegend als Aufklärung über die politischen Zustände und als Mobilisierung für andere gesellschaftliche Kräfteverhältnisse versteht, läuft aus linker Sicht im Wahlkampf 2024 zum Europaparlament vieles falsch.
In Deutschland nehmen 2024 sieben Parteien, die sich als links verstehen oder als linke Parteien gelten, an den Wahlen teil: „ Die Linke“, das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), die Satirepartei „Die Partei“, die Deutsche Kommunistische Partei (DKP), die linke Europapartei „MERA25“ des einstigen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis, die trotzkistische Sozialistische Gleichheitspartei SGP und die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD).
2019 hatten nur vier Parteien („Die Linke“, „Die Partei“, DKP und SGP) an den Wahlen teilgenommen. „Die Linke“ und „Die Partei“ bekamen damals 2.056.049 (5,4 Prozent) beziehungsweise 899.079 Stimmen (2,4 Prozent). Sie erhielten fünf beziehungsweise zwei Mandate. Die DKP erhielt 20.396 Stimmen (0,1 Prozent) und die SDG 5.283 Stimmen (0,0 Prozent).
„Die Partei“ hält entsprechend ihrem satirischen Selbstverständnis wenig von komplexer Aufklärung. Sie präsentierte als Forderungen einige nachdenkenswerte politische Absurditäten: unter anderem die „Begrenzung der Managergehälter“ auf das 50.000-Fache eines Arbeitslohns, eine „Bier- und Mietpreisbremse“ und die Vorbereitung auf „Kriegswirtschaft“, in der „neben den Bürgern auch ihr Privatbesitz eingezogen werden kann“.
Das Wahlprogramm der Partei „Die Linke“ 2024 ist durch analytische Schwäche und fehlende Klarheit der politischen Handlungsorientierung gekennzeichnet. Es ähnelt mit seinen mehr als 100 Seiten, fünf Kapiteln mit 22 Unterpunkten und einer Fülle von Einzelpunkten geradezu einem Regierungsprogramm. Die begrenzten Möglichkeiten des Europaparlaments bleiben unbeachtet. Das Wahlprogramm wendet sich gegen das bestehende Europa „der Banken und Konzerne“ und dagegen, dass die „Ungleichheit in Europa wächst, der Reichtum von Wenigen steigt“ und verlangt ein „Europa der Menschen“ und einen „Kampf für eine demokratischere, sozialere Europäische Union“. Wege, wie dies erreicht werden kann, werden nicht aufgezeigt.
Im Ukraine-Krieg sieht die „Die Linke“ nach mehr als zwei Jahren immer noch einen bloßen „Angriffskrieg“. Die vorher erfolgte Osterweiterung der NATO und die Eskalation des Ukraine-Krieges zu einem hochgefährlichen Stellvertreter- und Weltordnungskrieg von USA und NATO gegen Russland werden nicht thematisiert. Einige Forderungen der Partei „Die Linke“ im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg sind mit denen der Regierenden ganz oder fast identisch. So verlangt die Linkspartei den „Rückzug der russischen Truppen“ und „Sanktionen gegen den russischen Machtapparat“.
Das BSW hat für sein „Programm für die Europawahl 2024“ die Überschrift gewählt: „Ein unabhängiges Europa souveräner Demokratien – friedlich und gerecht“. Die Machbarkeit dieses Ziels wird nicht problematisiert. Ähnlich wie auch offizielle Vertreter der Europäischen Union spricht sich das BSW für eine „wirtschaftspolitische und sicherheitspolitische Eigenständigkeit“ der EU aus, so als ob es eine strategische Autonomie der EU von links geben könne.
All dies geht allerdings mit vielen richtigen Einschätzungen einher. So schätzt das BSW ein: Innerhalb der „Führung der Europäischen Union“ und „in vielen Mitgliedsländern“ gelte: „Die Sprache des Krieges herrscht wieder in Europa, und Sicherheit wird allein in militärischer Stärke gesucht.“ Die „Europäische Union“ habe einen Prozess „aktiv unterstützt“, in dem viele europäische Länder „wichtige Teile ihrer Industrie verloren“ haben und der „Anteil Europas an der Weltwirtschaft schrumpft“.
Den Ukraine-Krieg bewertet das BSW als „blutigen Stellvertreterkrieg zwischen USA und Russland“. Das Bündnis plädiert für ein Ende der Hochrüstung, einen „Stopp der Rüstungsexporte“ an die Ukraine, für eine „neue europäische Friedensordnung“ und für eine „Außenpolitik der friedlichen Konfliktbeilegung“. Die Kritik der Großmachtrolle der EU als „Juniorpartner“ der USA verbindet das BSW mit der Forderung, die EU müsse „europäische Interessen verfolgen“.
Im Unterschied zur Bejahung der EU durch Linkspartei und BSW geht die DKP in ihrem Flyer zur „EU-Wahl“ davon aus, dass die EU als „Konstrukt … nicht reformierbar ist“. Sie fordert ein Ende des „Sanktionsregimes“, „Stopp aller Waffenlieferungen“ und den „Austritt aus NATO und EU“. Ihre Teilnahme an den „EU-Wahlen“ will sie nutzen, „weil wir den Friedenskampf im Wahlkampf stärken und in das EU-Parlament tragen wollen“. (Positionen der DKP zur EU-Wahl 2024, Gemeinsam kämpfen – für Frieden, Arbeit und unsere demokratischen Rechte)
Prognosen vor der EU-Wahl
Fünfte These: Nach Umfragen werden die Europawahlen die rechten Fraktionen stärken, die Spaltung der Linken vertiefen und Umbrüche im linken Parteienspektrum der Bundesrepublik forcieren.
Das Europaparlament besteht (nach dem Ausschluss der elf AfD-Abgeordneten am 23. Mai 2024 aus der ID-Fraktion) aus 60 fraktionslosen Abgeordneten und 7 Fraktionen: Linksfraktion GUE/NGL (Konföderale Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken und Nordischen Grünen), Grüne/EFA, Sozialdemokraten, Renew (Liberale), EVP (Europäische Volkspartei) und zwei Fraktionen der rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien: EKR (Europäische Konservative und Reformer) sowie ID (Identität und Demokratie).
Die Zahl der Abgeordneten der Grünen wird, wenn die Umfragen sich bestätigen, vermutlich zurückgehen (von 72 auf 48). Die Fraktionen der EKR und von ID im Europaparlament werden anwachsen. (Vergleiche Jan Rettig, „Die extremen Rechten werden so stark sein wie nie zuvor“, ND vom 4./5. Mai 2024)
Zu erwarten ist ein weiterer Rechtsschwenk: „Unterm Strich werden die extremen Rechten so stark vertreten sein wie nie zuvor. Es ist deutlich mehr als eine Angstkampagne, wenn demokratische Kräfte auf diese Gefahr hinweisen.“ Aber das ist nur die halbe Wahrheit: „Viele Diskurse, allen voran der Antimigrationsdiskurs, sind ja schon ziemlich weit nach rechts verschoben. Das passiert unter dem Druck der Rechten. Aber unterstützt wird es stets von Christdemokraten, Konservativen, Sozialdemokraten, Liberalen, auch von den Grünen.“ (Jan Rettig, ebenda)
Unübersehbar gibt es eine im Europaparlament, in der EU und in vielen EU-Staaten anwachsende rechte Tendenz, die schwindende Weltmachtrolle der EU durch mehr Eigenständigkeit von rechts gegenüber den USA zu stärken. Am 27. und 28. April 2024 fand zum Beispiel unter dem Motto „Migration und Wirtschaftssouveränität als globale Herausforderungen“ eine Konferenz in Bukarest von 400 Konservativen aus 30 Ländern mit dem Trump-nahen Motto „Make Europe great again“ statt (vergleiche „Jüdische Rundschau“, Mai 2024), an der auch rechte Abgeordnete des Europaparlaments teilnahmen. Eine neue Gangart der in der EU Herrschenden gegen den wirtschaftlichen Niedergang der EU und für den Zugriff der EU auf die Ressourcen der Welt und für den Ausbau einer eigenen militärischen Stärke der EU gegenüber den USA zeichnen sich ab.
Erkennbar sind gleichfalls ein weiterer Niedergang der Partei „Die Linke“ und ein Aufstieg des BSW in Deutschland. Dabei wird sich voraussichtlich die Krise der links von den Sozialdemokraten stehenden europäischen Parteien verschärfen, deren Abgeordnete sich bisher der Fraktion GUE/NGL angeschlossen hatten. Eine weitere Differenzierung und Schwächung der Linken im Europaparlament ist voraussehbar, ungeachtet von Mandatsgewinnen, auf die besonders die Partei der Arbeit aus Belgien und die linkssozialistische Sinn Fein aus Irland hoffen können.
Die oben erwähnte Wahlprognose im ND sieht so auch zwar ein Anwachsen der Linksfraktion im Europaparlament von 37 auf 44 Abgeordnete voraus, aber zugleich nehmen, wie am Beispiel von Linkspartei und BSW in Deutschland bereits gezeigt wurde, die Differenzen in diesen Parteien besonders in der Friedensfrage im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg und dem Nahostkonflikt zu.
In der Linksfraktion des Europaparlaments gab und gibt es wenige Punkte, in denen sich die Mitgliederparteien einig sind: Ablehnung der Militarisierung der EU-Außenpolitik, Kritik der NATO-Osterweiterung, Notwendigkeit einer Neuverhandlung der EU-Verträge. Differenzen bestehen bei der Bewertung des Ukraine-Krieges, hinsichtlich der Waffenlieferungen an die Ukraine und in Bezug auf die Sanktionspolitik von USA und EU gegenüber Russland. Abgeordnete aus Schweden und Finnland vertreten gar die Position von der NATO als „Schutzmacht“. (vergleiche Cornelia Hildebrandt, „Die europäischen Linksparteien in der Zeitenwende“, in: Thomas Sablowski/Peter Wahl, Hrsg., am angegebenen Ort, Seiten 165 ff.)
Nicht sicher ist auch, ob sich alle Abgeordneten links von den Sozialdemokraten wieder in der Fraktion GUE/NGL zusammenfinden wollen und werden. Weil die Linksfraktion im Europaparlament die EU als zu positiv bewertete, traten schon 2014 die zwei damals in Griechenland gewählten Abgeordneten der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) aus der Fraktion aus. Im neuen Europaparlament wird es darum gehen, ob neben der GUE/NGL eine weitere Linksfraktion gebildet werden wird (eine Fraktion benötigt mindestens 23 Abgeordnete). Das BSW aus Deutschland, das bis zu sechs Mandaten gewinnen könnte, hat offenbar einen solchen Plan: Fabio de Masi, Spitzenkandidat des BSW, kündigte die Gründung einer neuen Fraktion im EU-Parlament an: „aktuell liefen entsprechende Gespräche“. (Markell Mann, „In der realpolitischen Falle“, UZ vom 17. Mai 2024)
In der Vergangenheit haben wir zusammen mit anderen für das Jahr 2024 eine Situation vorausgesagt, da es im Ukrainekrieg entweder zur Eskalation oder zu einem Verhandlungsfrieden kommt. Wir sehen uns insofern bestätigt, als die Dinge weiterhin auf eine derartige Entscheidungssituation hinauslaufen. Allerdings haben inzwischen die Ankündigungen des US-Verteidigungsministers und einiger NATO-Staaten, mit NATO-Truppen auf der Seite der Ukraine gegen Russland in den Krieg einzugreifen, die Gefahr einer Eskalation deutlich verschärft. Wenn das so kommt, müssten nicht wenige unserer Einschätzungen überdacht und präzisiert werden.