DIE LINKE droht zu einer Splitterpartei zu zerfallen
Michael Brie: »Man hat klassenverbindende Politik propagiert und klassenspaltend agiert«
Die Linke droht, zu einer Splitterpartei zu zerfallen. Partei-Urgestein Michael Brie analysiert, warum Die Linke die Arbeiter verloren hat und wieso der Austritt von Sahra Wagenknecht die Partei nicht einen konnte
Von Michael Brie
Quelle: https://www.matthias-w-birkwald.de/de/article/2779.warum-die-linke-die-arbeiter-verloren-hat-und-wieso-der-austritt-von-sahra-wagenknecht.html
bzw. direkt bei https://www.jacobin.de/artikel/linkspartei-die-linke-michael-brie-bsw-sahra-wagenknecht
Auszüge:
Die Führung der Partei Die Linke brachte das Ergebnis der Europa- und Kommunalwahlen am Abend des 9. Juni im ersten Satz ihres Briefes an die Mitglieder der Partei prägnant so auf den Punkt: »Die Linke ist in einer herausfordernden Lage.« Dies war wohl auch der erste Gedanke des Kapitäns der Titanic, nachdem ein Eisberg den Rumpf des Ozeanriesens in ganzer Länge aufgerissen hatte. Er hatte einfach den falschen Kurs zu falscher Zeit gewählt. Wie aber konnte es dazu kommen, dass die Linke einen Weg wählte, der ihr fast jeden politischen Einfluss raubt, nachdem sie doch 2005 so fulminant gestartet war? Ich werde dazu sechs Thesen formulieren.
Erste These: Die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger gegen Die Linke am 9. Juni 2024 war eine bewusste Wahl.
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»Die Unterstützung der Linken nach 2022 innerhalb der akademischen Mittelklasse ist konstant geblieben. Verloren hat die Partei unter Zugehörigen der Arbeiterklasse.«
Zweite These: Die Linke hat eine falsches Verständnis von Progressivität übernommen und sich damit ihrer Klassenbasis beraubt.
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»Eine linke Einheit mit den Lohnarbeitenden herzustellen, ist deutlich leichter bei jenen Fragen, die bei den Bürgerinnen und Bürgern weitgehend unumstritten sind. Sie wird auf die Probe gestellt, wenn gegensätzliche Positionen aufeinanderprallen. Und bei solchen Punkten hat die Führung der Linken versagt.«
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»Es gibt einen Konservatismus der Herrschenden, die ihre Macht- und Eigentumsprivilegien bewahren wollen, und einen Konservatismus der Lohnabhängigen, die ihre hart erkämpften sozialen Errungenschaften verteidigen.«
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These 3: Es sind drei Bündnisse möglich, die auf Hegemonie zielen.
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»Die Botschaft, die Linkspartei habe die Arbeiter eigentlich nicht verloren, steht in direktem Kontrast zu dem realen Wahlverhalten der Arbeiter bei der EU-Wahl.«
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These 4: Die Abspaltung des BSW entstand aus der Unfähigkeit oder dem Unwillen der Führung der Linken, die eigene Wählerschaft zusammenzuführen.
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»Es entstand nach 2009 kein strategisches Zentrum mit der notwendigen Führungs- und Integrationsfähigkeit gegenüber den auseinandertreibenden Kräften.«
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Mit der Abspaltung des BSW ist eine neue Partei entstanden, die der Linken harte Konkurrenz macht. Diese Spaltung hat getrennt, was bei der Gründung der Partei Die Linke verbunden wurde – ein breites Spektrum mit sehr unterschiedlichen Positionen aus PDS, SPD, Grünen, gewerkschaftlichen Kreisen, sozialen Bewegungen, kommunistischen Gruppen, linken Aktivistinnen und Aktivisten. Mit ihrer klaren Frontstellung zu Neoliberalismus, Finanzmarkt-Kapitalismus, Imperialismus und Krieg gab es hohe Gemeinsamkeiten. Diese Gemeinsamkeiten traten in dem Maße in den Hintergrund, wie neue Probleme sich in den Vordergrund schoben. Auslöser war der Zuzug vieler Migrantinnen und Migranten 2015 und danach die Pandemie und der Ukraine-Krieg. Mehrheiten auf Parteitagen und in der Führung der Partei bezogen nun Positionen, die eine Absage an jene unter den Wählerinnen und Wählern darstellten, die kollektiven Schutz einforderten, wirkliche Friedenspolitik verlangten und früher einen größeren Teil der Wählerschaft ausmachten.
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These 5: DIE LINKE steht vor der fast unmöglichen Aufgabe, sich unter den Bedingungen der Konkurrenz im linkslibertären wie linkskonservativen Feld zu erneuern.
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»Sozialistische Klassenpolitik bedeutet, die Lage, die Sichtweisen, den Stolz auf die eigene Leistung, die Ansprüche auf Selbst- und Mitbestimmung der lohnarbeitenden Klassen in ihrer Widersprüchlichkeit zum Ausgangspunkt zu nehmen.«
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These 6: Ohne sozialistische Identität kann es keine dezidiert linke Partei geben.
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»Klassenverbindende Politik bleibt eine Phrase, wenn man gegen die Einstellungen in der Klasse konfrontativ agiert.«
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Sozialistische Klassenpolitik bedeutet, die genannten Fragen in keiner Weise zu leugnen, sondern sie ausgehend von den Lohnabhängigen her und mit ihnen gemeinsam zu stellen. Sie verlangt, die Lage, die Sichtweisen, den Stolz auf die eigene Leistung, die Ansprüche auf Selbst- und Mitbestimmung der lohnarbeitenden Klassen in ihrer Widersprüchlichkeit zum Ausgangspunkt zu nehmen. Denn nur mit der lohnarbeitenden Klasse ist es möglich, dass Klimabewegung, Friedensbewegung, feministische, antirassistische und antifaschistische Bewegungen ihre Ziele erreichen können. Gelingt dies nicht, werden die lohnarbeitenden Klassen entweder ihr Schutzbedürfnis nur defensiv wahrnehmen können, resignieren oder sich der Neuen Rechten zuwenden. Radikale transformatorisch orientierte Realpolitik im Sinne von Rosa Luxemburg ist nur möglich durch ein in den lohnarbeitenden Klassen verwurzeltes politisches Projekt. Ansonsten bleibt linke Politik das freundliche Gesicht des neoliberalen kapitalistischen Mainstreams und stärkt nolens volens die Rechte.
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