«Eine galoppierende Geopolitisierung aller Debatten»
Stichworte: Bauernproteste – Sichtweisen in der Bevölkerung auf den Ukraine-Krieg – Geopolitisierung des Westens – BSW
Interview mit Andrej Hunko – Zeitgeschehen im Fokus | 17.1.24
Quelle: https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-1-vom-17-januar-2024.html#article_1626
Auszüge:
[…]
Haben die Proteste [der Bauern] neben den Kürzungen der Subventionen noch andere Gründe?
Die Kürzungen von knapp einer Milliarde wurde von der Bundesregierung mittlerweile zum Teil zurückgenommen in dem Sinne, dass die Aufhebung der Subventionen auf Treibstoff schrittweise vollzogen werden soll, was von den Bauern aber abgelehnt wird. Das Ganze steht in dem Kontext, dass alleine der Sonderposten für weitere Waffenlieferungen an die Ukraine von vier auf acht Milliarden Euro erhöht wurde. Der Wirtschaftskrieg gegen Russland führt in Deutschland aufgrund der hohen Energiepreise zu einer Rezession, die über die üblichen Zyklen hinausgeht. Viele befürchten eine langfristige Deindustrialisierung. Das ist der Kontext, den man betrachten muss. Hinzu kommt noch die generelle Aufrüstung, die sich in dem Haushalt abbildet, während an anderer Stelle dringend notwendige Investitionen unterbleiben.
Die 8 Milliarden sind also in den von Scholz festgelegten 100 Milliarden für das Militär nicht enthalten?
Nein, das ist von den 100 Milliarden Sonderschulden bzw. Kriegskrediten getrennt. Das kommt zu den 100 Milliarden dazu. Das bedeutet im bestehenden Haushalt einen geplanten Sonderposten von über 8 Milliarden Euro für «Ertüchtigungshilfen an Partnerländer», aber damit ist in erster Linie die Ukraine gemeint, vielleicht ist auch ein Teil für Israel gedacht. Das wird nicht direkt benannt. Insgesamt soll so das 2 Prozent-Ziel (des BIPs) der Nato erfüllt werden.
Wie kommt das in der Öffentlichkeit an?
Generell ist die Ampelregierung so unbeliebt wie keine Bundesregierung zuvor. Die jüngsten Zahlen sagen, 83 Prozent der Bevölkerung sind mit der Regierung nicht zufrieden nur 17 Prozent sind mit der Regierung zufrieden. Das ist ein historischer Tiefstwert. Die militärische Dimension des Haushaltes wird in der Öffentlichkeit weniger diskutiert.
Was sind denn die Gründe der schlechten Bewertung? Die Regierungsparteien hatten doch nach den letzten Wahlen zusammen die Mehrheit.
Das ist eine Mischung verschiedener Faktoren. Deutschland ist das einzige westliche Land, das gegenwärtig in einer Rezession mit - 0,5 Prozent und möglicherweise vor einem langfristigen Niedergang steht.
Kanzler Scholz sieht das aber anders. Die Wirtschaft sei nicht so weit gesunken, wie von manchem prognostiziert wurde. Auch seien mehr Arbeitsplätze geschaffen worden und Steuersenkungen werden das Portemonnaie der Menschen entlasten …
Vielleicht ist das sein Wunschdenken für die Zukunft. Aber das ist ein Teil des Problems. Die Menschen merken doch, dass das nicht stimmt und dass alles immer teurer und schlechter wird. Die Züge funktionieren nicht, die Brücken sind marode, es gibt Überflutungen in Niedersachsen, die Hilfen funktionieren jedoch nicht richtig, die Firmen wandern ab etc. Dann hält der Kanzler eine Rede, in der er sagt, dass alles besser werde. Das erzeugt doch bei den Menschen Unmut und zum Teil auch Wut. Das sieht man vor allem im Osten Deutschlands, was auch mit der Sicht auf den Krieg zusammenhängt. Der deutsche Staat pumpt immer mehr Geld in einen aussichtslosen Krieg und ein korruptes Land.
Dass das die Menschen stört, ist doch auch nicht falsch.
Nein, natürlich nicht, besonders im Osten nimmt man das so wahr. Es gibt Äusserungen, vor allem von Annalena Baerbock, die bei den Menschen präsent sind und Kopfschütteln auslösen wie die «360°- Wende» oder «mir ist egal, was meine Wähler denken, Hauptsache, wir unterstützen die Ukraine.» Solche Dinge stossen den Menschen auf. Das ist insbesondere bei den beiden Grünen Ministern Baerbock und Habeck zu beobachten. Dazu kommt noch die Wahrnehmung, dass man von den Politikern erzogen werden soll. Es spielen besondere Faktoren zusammen, die zu dieser Stimmung führen. Die Wut richtet sich massgeblich gegen die Grünen, was dann versucht wird, als rechtsextrem darzustellen. Das macht das Ganze so schwierig. Die Geschichte mit der Fähre wird enorm hochgespielt und medial aufgeladen. Man wirft den Aktivisten Nötigung vor. Das löst bei vielen, die das Verhalten der Klimakleber als Nötigung empfunden haben, Ärger aus, da der Staat nach deren Auffassung diese mit Samthandschuhen angefasst hat. All diese Facetten tragen zu der gereizten, aggressiven Stimmung bei. Auf den sozialen Medien ist eine zunehmende «Brutalisierung» des Diskurses und die Verengung des Diskussionsrahmens feststellbar. Das führt am Ende zu einer Radikalisierung. Es gibt eine Allensbach-Umfrage, in der eine klare Mehrheit der Meinung ist, nicht mehr das sagen zu können, was sie denkt. All diese Aspekte kristallisieren sich aktuell in den Bauernprotesten.
Ich möchte gerne auf eine Aussage von Ihnen zurückkommen, nämlich dass im Osten Deutschlands die Menschen gegenüber der Politik der Bundesregierung, die Milliarden in den Ukrainekrieg steckt, kritischer eingestellt sind. Wie lässt sich das erklären?
Das ist ein interessanter Aspekt. Wenn man die Weltlage betrachtet, kann man feststellen, dass die osteuropäischen Länder eher antirussisch sind. In Deutschland ist es genau umgekehrt. Ostdeutschland hat weniger Ablehnung gegenüber Russland. Das hat sicher auch mit der Erfahrung zu tun, die sie bei der Wiedervereinigung gemacht haben. Ohne die Zustimmung der damaligen Sowjetunion wäre die Wiedervereinigung nicht möglich gewesen. Sie wissen auch, dass es die Zusagen gab, die Nato nicht nach Osten auszudehnen. Sie haben erlebt, dass die sowjetischen Soldaten 1994 ihre Kasernen besenrein übergeben haben. Das ist noch im kollektiven Gedächtnis vorhanden, während im Westen immer noch die alten Feindbilder vorherrschen.
Ist es nicht auch positiv zu bewerten, dass die Bauern auf die Strasse gehen und sich wehren und auch andere Menschen ihrem Unmut Ausdruck verleihen?
Absolut, solange es im rechtsstaatlichen Rahmen passiert. Dennoch muss man sich die Frage stellen, in welche Richtung sich dieser Widerstand bewegt. Es gibt auch heftige Kritik aus den führenden Etagen der deutschen Wirtschaft. Dabei werden nicht die Sanktionen kritisiert, sondern gefordert, dass in Deutschland mehr dereguliert werden soll. Letztlich wird und muss die Unzufriedenheit in eine politische Richtung gehen, aber in welche, das ist noch offen.
Meinen Sie damit, wer die Unzufriedenheit politisch kanalisiert und wer sie wohin führt?
Ja, wir haben doch eine historische Erfahrung. Nicht, dass ich den Teufel an die Wand malen möchte, und ich möchte das natürlich nicht direkt mit heute vergleichen, aber am Ende der Weimarer Republik gab es eine grosse Unzufriedenheit, die berechtigt, verständlich und legitim war, aber in eine völlig falsche Richtung gelenkt wurde. Zur Lösung einer Krise gibt es immer verschiedene Möglichkeiten.
Wenn man sich die CDU als Alternative vorstellt, kommt man vom Regen in die Traufe, wie in den USA: Man kann zwischen Pech und Schwefel wählen …
Ja, Friedrich Merz, der von «Blackrock» kommend zum CDU-Vorsitzenden gewählt wurde, will noch mehr Waffen in die Ukraine liefern. Einer der Scharfmacher in der CDU ist Roderich Kiesewetter. Er ist extrem und sehr wortgewaltig. Nach seiner Einschätzung geht es beim Ukrainekrieg um die Lithium-Vorkommen in der Ostukraine. Wenn diese nicht in die Hand des Westens kämen, könne Putin uns bei der Energiewende erpressen. Das ist jetzt ein neues Argument, um noch mehr Waffen liefern zu können.
Das müsste doch den Menschen auffallen. Worum geht es eigentlich in diesem Krieg? Will man die Ukraine militärisch unterstützen und von der russischen Besatzung befreien, um, wie argumentiert wird, die territoriale Integrität wieder herzustellen, oder will man sich die Bodenschätze unter den Nagel reissen?
Je nach dem, welches Publikum sie ansprechen wollen, betonen sie das eine oder das andere. Auch halte ich das immer wieder erwähnte Szenario, Putin werde durch Polen oder das Baltikum Richtung Westen marschieren für Unsinn. Was stimmt,ist, dass wir es mit einer geopolitischen Auseinandersetzung grösseren Ausmasses zu tun haben. Wir erleben nicht nur diesen Krieg, wir erleben auch die Eskalationsgefahr im Nahen und Mittleren Osten. Wir erleben eine weitere Eskalation um Korea und einen schwelenden Konflikt um Taiwan. Wir erleben einen massiven Umbruch, indem die Dominanz der USA und ihrer Verbündeten immer weiter bröckelt, und dieser Vorgang in kriegerischen Handlungen und zunehmenden Spannungen zum Ausdruck kommt. Ich beobachte im Bundestag eine galoppierende Geopolitisierung aller Debatten. In den Debatten spricht man von Partnerland und Gegnerland. Die Geopolitisierung war schon vorher da, aber in diesem Masse nicht wahrnehmbar.
Auch in der Coronazeit, in der man dachte, dass es eine Menschheitsaufgabe sei, das Virus abzuwehren, war es so, dass bei uns nur Impfstoffe aus Nato-Ländern zugelassen waren, Pfizer-Biontec, Moderna und so weiter. Der russische Impfstoff Sputnik kam von der falschen Seite und wurde nicht anerkannt wie auch Sinovac aus China oder Soberana aus Kuba nicht. Das zeigt, wie der Coronadiskurs geopolitisiert wurde. Sputnik war der erste Impfstoff auf dem Markt. Die Russen boten den Impfstoff an. San Marino impfte Sputnik und liess das von italienischen Universitäten wissenschaftlich begleiten. Die Daten waren exzellent, aber dennoch wurde der Impfstoff in der EU medial verteufelt und nicht zugelassen. Menschen, die in Russland arbeiteten, mussten sich hier zusätzlich mit dem hiesigen Impfstoff impfen lassen, um sich zum Beispiel in Deutschland bewegen zu können oder um an Weihnachten ihre Verwandten zu besuchen. Das ist doch ein Irrsinn!
Das ist tatsächlich ein schleichender Vorgang, der sich langsam in den Köpfen der Menschen festsetzt und von den Medien verbreitet wird. Wo sehen Sie noch weitere Formen der Geopolitisierung im Westen?
Da fällt mir spontan die permanente Verwendung des Begriffs der «regelbasierten Ordnung» (rules based order) ein. Das ist ein reines Nato-Konzept, das sich vermehrt in vielen Dokumenten, auch im Europarat, finden lässt. Die Verantwortlichen sagen nicht, das internationale Recht soll eingehalten werden, die Genfer Konventionen, das Völkerrecht und so weiter, sondern es steht, die «regelbasierte Ordnung» muss eingehalten werden. Das ist eindeutig ein geopolitischer Begriff. Es gibt keine klare Definition für diesen Begriff, der so beliebig «dehnbar» ist. Man missbraucht das Völkerrecht und ignoriert die Genfer Konventionen. Was hier mitschwingt, ist folgende Haltung: Die Regeln der «regelbasierten Ordnung» bestimmen wir. Völkerrecht hin oder her. Das sind Begriffe, die plötzlich überall auftauchen, und das macht mich stutzig.
Das heisst doch, wir, der Westen, stellen die Regeln auf, und die Welt hat sich danach zu richten.
Letztlich geht es darum, wer in Zukunft die «Regeln» bestimmt, und diese sind völlig diffus und daher problematisch. Das erinnert mich an die bundesdeutsche Geschichte und die «freiheitlich demokratische Grundordnung». In den 70er, 80er Jahren gab es die Berufsverbote für Menschen, die angeblich diese Ordnung verletzten. Es war aber auch kein Verstoss gegen das Grundgesetz und den entsprechenden Verfassungsartikel. Es hiess dann: « … bietet nicht die Gewähr, jederzeit für die freiheitlich demokratische Grundordnung einzutreten». Das ist eine unscharfe Begrifflichkeit, in die man alles Mögliche hineininterpretieren konnte und die Repressionen ermöglichte. Hier sehe ich eine Parallele zur internationalen Anwendung dieses Prinzips. Was ist denn nun diese «regelbasierte Ordnung»? Eigentlich ist es ein Instrument autoritärer Systeme, um mit unscharfen Begriffen die Kritiker einzuschüchtern.
Die Unzufriedenheit in Deutschland, die sich an der Landwirtschaftspolitik manifestiert, bezieht sich auch auf andere Bereiche, zum Beispiel dass Deutschland immer noch fest an der Seite der Ukraine steht? Realisieren die Menschen nicht immer mehr, dass die Unterstützung der Ukraine eine Todgeburt ist?
Das Thema spielt im öffentlichen Diskurs nicht die Rolle, die es eigentlich spielen sollte. Aber es ist deutlich, dass die Stimmung sich langsam dreht. Es gibt erneute Umfragen, was Waffenlieferungen oder finanzielle Unterstützung anbetrifft, deren Ergebnisse sich trotz allem auf einem relativ hohen Niveau befinden.
Aber wenn man durch die Städte in Deutschland geht, dann fällt etwas auf. Ich war vorhin am Aachener Rathaus, und bis vor kurzen hingen dort die Ukrainefahnen. Seit dem 7. Oktober flatterte dazu noch die Israelfahne. Das ist vorbei. Aktuell hängen dort keine Fahnen mehr. Auch in den Fenstern der Wohnhäuser konnte man noch bis vor einem halben Jahr Ukrainefahnen sehen. Das ist jedoch immer seltener der Fall. Da hat sich die Stimmung markant geändert.
Die Menschen fangen also an, die Manipulation zu durchschauen?
Ja, verhalten. Einerseits setzt sich die Erkenntnis durch, dass der Krieg nicht zu gewinnen ist und bestenfalls in einen Stellungskrieg übergeht mit Unmengen von Toten und endloser Finanzierung. Auch wird mehr und mehr gesehen, dass nicht alles Gold ist, was in der Ukraine so glänzt. Man erkennt langsam, dass es ein korrupter Staat und Selenskyj auch in der Ukraine zunehmend umstritten ist. Die Zustimmung bröckelt, aber sie bröckelt langsam. Vielleicht artikuliert sich die wechselnde Stimmung deswegen so langsam, weil man sehr schnell gebrandmarkt ist, wenn man da Zweifel äussert. Die offizielle Parole lautet «as long as it takes». Danach kann es Jahre oder Jahrzehnte gehen. Wir pumpen unendlich viel Geld in den Krieg hinein, ohne dass er zu einem erfolgreichen Ende führt.
In den USA klingt es schon etwas anders «as long as we can»…
In den USA ist der Diskurs viel offener. Dort gibt es sehr viel mehr relevante kritische Stimmen. Es wird dort auch sehr viel mehr abgewogen, was das für das eigene Land bedeutet. Das ist bei uns alles Tabu. Es spielt keine Rolle, was das am Ende für Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft und die Lebensbedingungen der Menschen im Land hat.
Gibt es eine Erklärung dafür, dass die Diskussionen selbst in den betroffenen Ländern zum Beispiel in Israel, offener geführt werden als in Deutschland?
In Deutschland haben wir eine besondere Form der Moralisierung der Debatten, die es in den USA oder anderen Ländern so nicht gibt. Das war in Deutschland schon immer so. Das Land hatte schon immer das Bestreben, geopolitische Ambitionen besonders ethisch einzukleiden. Das kann man von der Rechtfertigung des Imperialismus bis heute jeweils in angepasster Form beobachten von «an dem deutschen Wesen soll die Welt genesen» bis zur «regelbasierten Ordnung».»
[…]