Was ist Sicherheit?
von Werner Ruf, Prof. für internationale Politik i.R. und Friedensforscher, Kasseler Friedensforum
Werner Ruf
Was ist Sicherheit?
Hartnäckig hält sich die Vorstellung, Verteidigung sei die einzig denkbare Grundlage, um ein Gemeinwesen vor Gefahren und Bedrohungen zu schützen. Im Vokabular der NATO heißt dies „Abschreckung“. Der Grundgedanke einer solchen Doktrin ist, dass ein gefährlicher, bedrohlicher (böser) „Anderer“ durch vorhandene Hochrüstung davor abgeschreckt werden muss, uns, „die Guten“ anzugreifen. Welch fatale und letztlich kontraproduktive Logik hinter einem solchen Theorem steckt, hat bereits Immanuel Kant nachgewiesen: „Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören. Denn sie bedrohen andere Staaten mit Krieg durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen; reizen diese an, sich einander in der Menge der Gerüsteten, die keine Grenze kennt, zu übertreffen …“ Immanuel Kant: Zum Ewigen Frieden, 3. Präliminarartikel.
Trefflich hat er auch den solchem Sicherheitsdenken innewohnenden Automatismus zu Rüstungswettlauf und Hochrüsten beschrieben, die nur zur Erhöhung der Kriegsgefahr führen. Perfekt illustriert das die derzeitige „Verteidigungsdoktrin“ der NATO, die um einer „glaubhaften Abschreckung“ willen den Ersteinsatz von Atomwaffen vorsieht. Sicherheitspolitik, die inzwischen zur Überlebensfrage der Menschheit geworden ist, muss dagegen davon ausgehen, dass Sicherheit erst dann gewährleistet werden kann, wenn der Andere sich in Sicherheit fühlen kann. Sicherheit erfordert also auch die Fähigkeit, die Welt mit den Augen des Anderen zu betrachten.
Konkret auf die derzeitige Situation betrachtet, in der Russland täglich als die große Bedrohung dargestellt wird, einige Fakten:
- Die Zahl der Mitgliedstaaten der NATO hat sich von 16 zur Zeit des Kalten Krieges auf 30 erhöht. Die meisten von ihnen waren zuvor Mitglieder des Warschauer Pakts; die NATO schob sich so an die unmittelbaren Grenzen Russlands heran.
- Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge wurden nicht verlängert oder gekündigt wie insbesondere der INF-Vertrag, der durch das Verbot von landgestützten Atomraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 km eine atomare Auseinandersetzung in Europa verhindern sollte.
- Aufgrund der NATO-Osterweiterung operieren NATO-Flotten nun im Asow’schen Meer, fast mitten im europäischen Teil Russlands. Die Zusage gegenüber Russland, dass in den baltischen Staaten keine NATO-Truppen dauerhaft stationiert werden sollten, wurde durch die Regelung umgangen, dass die Stationierung dieser Truppen rotiert: Große NATO-Truppenteile können so ortskundig trainiert werden.
- Erstmals seit dem Kalten Krieg werden wieder Großmanöver mit bis zu 50.000 Soldaten abgehalten – diesmal direkt an den russischen Grenzen.
- Vor allem die Rüstungsausgaben (lt. SIPRI) sprechen eine eindeutige Sprache: 2019 betrugen die Rüstungsausgaben Russlands 64,1 Mrd. US $, Deutschlands 51,2 Mrd. US $, die der USA 718,7 Mrd. US $, gemeinsam mit den übrigen NATO-Staaten lagen sie über 1.000 Mrd. US $.
Wer bedroht hier wen?
Und die Bundesrepublik? Sie ist, wie in Manövern geprobt, nicht nur Aufmarsch- und Verteilungszentrum der NATO-Truppen auf dem Marsch nach Osten, im Rahmen der atomaren Teilhabe probt die Bundeswehr von Büchel aus den Abwurf von US-Atombomben auf Russland. Russische Atom(?)-Raketen dürften längst auf Büchel gerichtet sein. Die „glaubhafte Abschreckung“ ist zur Bedrohung geworden, zunächst für Russland, in der Folge für uns selbst. Hochrüstung sichert nicht den Frieden, sie bedroht ihn. Diese brandgefährliche Situation hatten Ost und 1990 begriffen und mit der Charta von Paris (dazu folgt ein Artikel) 1990 die Grundlage für ein Vertragswerk gegenseitiger kollektiver Sicherheit und wechselseitiger, schrittweiser Abrüstung geschaffen. Darauf könnte eine Politik der Entspannung und Zusammenarbeit immer noch aufbauen. Nicht Drohung, sondern das Gefühl des potenziellen Gegners, selbst in Sicherheit zu leben, sind die Grundlage von Sicherheitspolitik!